"Der Wald ist meine Kirche“

Martin Röker und seine Frau Katja sind seit Ende 2005 Reisepfarrer in Finnland

27. März 2010

Abendstimmung in Finnland

Vierzehn Grad minus im Februar sind nicht wirklich kalt. Erst der scharfe Wind macht den Frost schneidend. Als die Autotür ins Schloss fällt und ich hinterm Lenkrad sitze, bin ich zu Hause - my car is my castle. Auf dem Beifahrersitz liegen griffbereit Reiseproviant, Hörbücher und Musik-CDs und bald der sich bis zur nächsten Rast ansammelnde Abfall. Außerdem die Landkarte - nein, wir haben noch immer kein Navi. Hinter mir der schwarze Anzug, das weiße Hemd, der Talar. Gestern bei der Ankunft habe ich - wie meistens - vergessen, den Kilometerstand ins Fahrtenbuch einzutragen. Jetzt muss ich den Kugelschreiber in der Hand anwärmen. Er ist nachts festgefroren.

Als Reisepastoren arbeiten meine Frau und ich für die "Deutsche Evangelisch-Lutherische Gemeinde in Finnland". Zu ihr gehören knapp 3000 Mitglieder, die bis zu 1000 Kilometer von­einander entfernt wohnen. Zu einem Drittel sind wir für die Gemeinde in Helsinki da (für den Stadtbereich Helsinki ist ein Kollege zuständig), zu einem Drittel für die Gemeinde in Turku und Tampere, und sonst für ganz Finnland: für Deutsche, finnische Ehepartner, Deutschlehrerinnen und ihre Schulklassen, Finnen, die einmal in Deutschland gelebt haben, Sprachinteressierte und Touristen. Zu Weihnachten, Ostern, Erntedank oder auch mal so reisen wir mit dem Auto in 20 verschiedene Städte. Und wir erleben die Mentalitäten von den Kareliern im Osten nahe der russischen Grenze, von den Bewohnern Lapplands in Rovaniemi und Muonio, von denen aus der mittelfinnischen ­Universitätsstadt Jyväskylä und denen an der Westküste.

Dem 600 Kilometer entfernten Konfirmanden erteile ich ­Fernunterricht per E-Mail. Als sich ein Paar an einem traumhaft schönen See mitten im Land trauen ließ, war das für uns eine mehrtägige Unternehmung. Für einen Hausbesuch fahre ich schon mal mehrere Stunden über Sandstraßen durch endlosen Wald.

Vergangene Woche reiste ich die Westküste entlang. Jeden Abend Gottesdienst in einer anderen Stadt. Heute Morgen verlasse ich Rovaniemi Richtung Südosten, 400 Kilometer verschneite Landstraße und Landschaft. Aus der hellgrauen Wolkendecke über mir fallen glitzernde Schneeflocken. Die Sonne vor mir blinzelt über die Tannenspitzen, ein fantastisches Bild. Jederzeit können aus dem Wald Rentiere oder Elche traben. 80 Stundenkilometer sind erlaubt, die Fahrt zieht sich. Auf einsamen Strecken fahre ich manchmal 100 Kilometer ohne Gegenverkehr. Die Kassiererin an einer kleinen, verlorenen Tankstelle freut sich über 80 Euro Umsatz. Das Diensttelefon klingelt. Über die Freisprechanlage versehe ich den Telefondienst - Organisatorisches und Seelsorge. Nur aufschreiben kann ich während der Fahrt nichts.

Nach sechs Stunden komme ich in Kuhmo, einem kleinen Ort in der Wildnis Ostfinnlands, an. Er ist beliebt für Kanu-, Wander- und Skilanglaufausflüge durch Wälder und über gefrorene Seen. Mit etwas Glück sieht man hier Wölfe, Bären und Adler. Der einsame Ort ist auch für sommerliche Konzertveranstaltungen mit Weltniveau berühmt. Eine Ehrenamtliche übersetzt den Gottesdienst Wort für Wort ins Finnische - das ist sonst nicht üblich. Die Predigt wird dadurch etwas lang. Doch hier hört man geduldig zu oder zeigt seine Ungeduld nicht. Nach dem Gottesdienst treffen wir uns wie üblich zum Kirchkaffee. Heute werden Lachssuppe und Blaubeerpudding serviert, normalweise gibt es "Pulla", Hefegebäck. Dazu viel Kaffee, auch wenn es auf 21 Uhr zugeht. Die Finnen sind mit 1300 Tassen jährlich Weltmeister im Pro-Kopf-Kaffeeverbrauch.

Finnland ist eine junge Nation, vor gerade mal 90 Jahren russischer Abhängigkeit entkommen. Noch ist Schwedisch teilweise zweite Amtssprache, aber es wird mehr und mehr zurückgedrängt. Das Land hat den Euro. Beim Einkaufen bezahlen wir fast nur noch mit der Bankkarte. Geben wir doch mal Bargeld aus, werden die Preise auf 5 Cent auf- oder abgerundet. Alles Kleingeld darunter ist praktisch nicht in Gebrauch. Die begehrten finnischen 1- und 2-Centstücke können Touristen für viel Geld in einigen Souvenirläden in Helsinki erstehen.

An den vielen Gedenk- und Feiertagen wird die blau-weiße Fahne gehisst. Am 6. Dezember kommt nicht etwa der Nikolaus - der bekanntlich in Rovaniemi zu Hause ist, sondern dann feiert Finnland die Unabhängigkeit, blau-weiße Kerzen stehen in den Fenstern. Und zu Allerseelen flackern auf allen Friedhöfen oft mitten im Schnee Tausende von Gedenkkerzen für die Verstorbenen. Ein anrührendes, schönes Bild!

Religiosität ist in Finnland sehr wichtig. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung gehören der evangelischen Staatskirche an. In der Regel wird ein Neugeborenes erst mit der Taufe als Staatsbürger registriert - die Eltern verraten seinen Namen üblicherweise auch erst dann. Es gibt außerdem Orthodoxe, Katholiken und ­einige Muslime. "Der Wald ist meine Kirche", sagte mir ein Finne. ­Ich nehme ihm das ab. Es gibt so viel Beeindruckendes: Die ­Einsamkeit und Stille inmitten der unzähligen blauen Seen; das klare Licht des hellblauen Himmels; die langen Nächte mit unzähligen Sternen, die wie zum Greifen nah sind; ein Frost, der die Welt erstarren lässt; das Nordlicht, das Grüße aus einer anderen Welt sendet. Und der überwältigend schnell erwachende Frühling. Rund fünf Millionen Finnen leben auf einer Fläche wie der Bundesrepublik Deutschland - die meisten im Süden, besonders im Großraum Helsinki. Das übrige Land bietet so viel Natur, da kann man sich des Gefühls kaum erwehren, eine schöpferische Kraft sei über und um einen.

Es heißt, die Finnen seien schweigsam. Einem deutschen Gast bei einer Hochzeit erzählte ich mal den Witz von einer Frau, die ihren finnischen Ehemann zehn Jahre nach der Hochzeit fragt: "Liebst du mich noch?" Er schweigt. Zwei Wochen später fragt sie erneut: "Liebst du mich noch?" Wieder keine Antwort. Sie fragt ein drittes Mal, worauf er muffelig antwortet: "Das hab ich dir doch schon vor zehn Jahren gesagt." Eine Finnin neben uns ergänzte trocken: "Das ist kein Witz, das ist wirklich so." Komisch, dass ausgerechnet dieses Volk marktführend Mobiltelefone herstellt, verkauft und nutzt. Via Telefon und SMS können Finnen mitteilsam sein wie sonst kaum jemand.

An einige finnische Umgangsformen mussten wir uns erst gewöhnen. Nicht ungefährlich ist der Konjunktiv. Ein Finne versteht ihn als höfliche, aber deutliche Aufforderung. Ein für uns normales "Bring bitte den Müll raus" empfindet er fast wie Anschreien. Ein Finne fragt vorsichtig und höflich, fast wie ein Gedankenspiel in den Raum hinein: "Könnte man nicht vielleicht den Müll rausbringen?" Sein Gegenüber versteht - und tut es.

So wahrt man mental eine Distanz, die einem überdies auch räumlich zusteht. Wohnhäuser im Wald umgeht man großräumig, um nicht zu stören. Und fremdes Eigentum wird ignoriert. Man braucht hier sein Rad kaum abzuschließen. Was man auf der Straße verliert, findet sich mit großer Wahrscheinlichkeit dort auch wieder.

Jogging, Nordic Walking, Ski- und Schlittschuhlaufen, Angeln, Jagen - überall trainieren Sportler eisern und hart. Finnen betreiben ihren Sport exzessiv. Aber sie sind Einzelkämpfer. Selbst beim Eishockey wird das mitunter spürbar.

Noch etwas ist an Finnland besonders. Einmal waren neben Organistin und Pastor bis kurz vorm Gottesdienst nur zwei weitere Personen da. Eine von ihnen sandte ein Stoßgebet gen Himmel: "Herr, lass noch zehn Leute kommen." - "Wenigstens fünf", ergänzte ich. In Finnland habe ich mehrfach erlebt, dass Gebete erhört werden. Tatsächlich feierten wir dann zu neunt.