Wladiwostok: "Beherrsche den Osten"

Manfred Brockmann ist pensionierter Pastor und arbeitet als Propst an der Pauluskirche in Wladiwostok

01. Februar 2010

Eisfischer in Sibirien

"Beherrsche den Osten" heißt Wladiwostok auf Deutsch. Der Pazifikhafen wurde 1860 gegründet. Deutsche in russischen Diensten waren dabei. Als Gouverneure, hohe Militärs, Wissenschaftler, Künstler, Kaufleute bestimmten sie das Leben der Stadt vorm Ersten Weltkrieg. Die lutherische Pauluskirche ist die älteste Kirche Wladiwostoks. Ihre Gemeinde hatte früher mal an die 4000 Mitglieder. Durch die sowjetische Revolution fand das alles ein Ende. Mein direkter Vorgänger, Pastor Woldemar Reichwald, wurde 1935 verschleppt und starb wahrscheinlich als Märtyrer, als Glaubenszeuge. Die Pauluskirche wurde ein Matrosenklub, dann Kino und schließlich Museum der russischen Pazifikkriegsflotte. Als ich 1992 kam, war sie von Panzern und Kanonen umgeben.

Ich nahm damals einen Studienurlaub - nicht an einer Universität sondern im Ausland. Fast wäre ich nach Südafrika gegangen, in eine Gesellschaft im Umbruch. Aber dann öffnete sich Russland. Ich kenne und liebe die russische Literatur, hatte sogar schon etwas Russisch gelernt, und als passionierten Wanderer, der nördliche Länder liebt, zog mich Russland geradezu an.

Im Mai 1992 kam ich auf die Synode der Lutherischen Kirche in Russland ins sibirische Omsk und wurde von dort nach Wladiwostok geschickt. Ich sollte die lutherische Pauluskirche aufsuchen und die Russlanddeutschen in dieser Stadt finden, etwa 800 sollten es sein. Die Kirche steht gut sichtbar in der Stadtmitte. Aber die Russlanddeutschen waren nicht so leicht aufzuspüren, sie trauten wohl dem nach der Perestroika angesagten Frieden nicht. Ich fand niemanden und war schon fast verzweifelt. Ich hatte mir ein Flugticket nach Tschegdomin gekauft, einer Bergbausiedlung 1500 Kilometer weiter nördlich, wohin man Russlanddeutsche verschleppt hatte. Doch wollte ich einen letzten Versuch wagen und vom KGB eine Adressenliste von Dissidenten bekommen. Aber eine russische Behörde rückt nichts heraus. Ich wandte mich an die orthodoxe Kirche, weil ich dachte: Christen müssen sich doch untereinander kennen und helfen. Doch ich wurde abgeschmettert: "Was wollen Sie denn hier? In Russland gibt es nur russische orthodoxe Christen!" Fast hätte man gesagt: darf es nur sie geben. Diese nationalistische Haltung ist verbreitet in der orthodoxen Kirche, auch wenn wir Lutheraner in Wladiwostok jetzt ein recht gutes Verhältnis zu ihr haben.

Ein römischer Katholik half mir. Ich traf ihn in einem Konzert, ein Mann in Schwarz mit Pastorenkragen. Pater Daniel Maurer war schon zwei Wochen vor mir hier, er kannte einige Lutheraner und gab mir deren Adressen. Im Untergrund sprach sich herum: Ein lutherischer Pastor ist da. Dann kamen alle aus ihren Löchern, wir feierten unseren ersten Gottesdienst am Sonntag Exaudi, am 31. Mai 1992 vor der Pauluskirche. Drinnen war ja noch das Kriegsmuseum. Das Foto von diesem ersten Gottesdienst hat einen Ehrenplatz in unserer Kirche. Von den etwa 50 Gründungsvätern und -müttern, meist Russlanddeutschen, ist fast keiner mehr hier. Die meisten sind nach Deutschland ausgewandert, einige ins europäische Russland, einer wurde erschossen (auch das kommt hier vor). Isolda, unsere langjährige Gemeindepräsidentin und von Beruf Klavierprofessorin, arbeitet jetzt in Peking, weil dort Akademiker anständig bezahlt werden.

Fünf Jahre kämpften wir um die Rückgabe der Pauluskirche. 1996 wollten wir die Öffentlichkeit auf unser Anliegen aufmerksam machen. Wir feierten einen Erntedankgottesdienst vor der Kirche. Während der Feier begann ein dichter Platzregen. Ich dachte, jetzt laufen alle davon, und dann denken die Leute: Das ist ein Zeichen Gottes, die kriegen ihre Kirche nie. Doch wie eine schützende Mauer scharte sich die Gemeinde um mich. Jemand rief: "Wir gehen alle in die Kirche!" Da war sie ja noch Kriegsmuseum mit Lenin auf dem Altar. Die Tür öffnete sich und die Museumswächter luden uns ein hineinzukommen. Ein Zeichen russischer Menschlichkeit: Auch seinen Gegner lässt man nicht im Regen stehen, sondern erbarmt sich seiner. Wir setzten unseren Gottesdienst fort mit der Feier des heiligen Abendmahls, zwischen Maschinengewehren und Bildern der sowjetischen Besetzung unserer Stadt. Ein Jahr später, am 16. September 1997, bekamen wir unsere Pauluskirche zurück. Die Kirche ist eine ewige Baustelle, aber über allem steht das Kreuz. Jeden Morgen beginnt es weithin über den Hafen sichtbar in der Sonne zu leuchten.

Inzwischen haben wir neun weitere Gemeinden gegründet, darunter die Markusgemeinde Magadan rund 2500 Kilometer nordöstlich (auf halbem Weg nach Alaska) und die Matthäusgemeinde Tschita im Westen (zwei Tage und drei Nächte mit der Transsibirischen Eisenbahn). Vermutlich ist die Propstei Fernost räumlich die größte der Welt. Aus Deutschland kamen tüchtige Helfer, Pastoren, vor allem Rainer Muus, ein kunstverständiger Handwerker, der jahrelang mit eigener Hände Arbeit und aus Liebe zur Kirche St. Pauli Wladiwostok renovierte, für Gotteslohn. Der deutsche Botschafter ernannte mich 2000 zum Honorarkonsul. Partnerschaften ins Ausland wurden aufgebaut, in die USA, nach Korea und Australien. Im Fernen Osten sind wir mehr nach Osten als nach Europa ausgerichtet, Amerika liegt für uns im Osten! Auch mit China bahnt sich eine Partnerschaft an. Wir haben gerade einen Pastor aus Peking zu Gast.

Unsere Probleme kreisen um Menschen und Geld. Mit Geld ist es einfach: Man hat es oder man hat es nicht. Menschen dagegen haben ihre Geschichte, ihre Wunden, leiden an Enttäuschungen, haben Träume, auch Rachegefühle. Viele Menschen sind überarbeitet. Auf Müdigkeit folgen Erschöpfung und Enttäuschung, und dann werden Menschen einfach böse, sagt meine Frau. Unsere schöne Kirche im Zentrum ist eine Insel der Menschlichkeit inmitten eines Meeres von hartem Kampf. Oft kommen Menschen von der Straße zu uns herein und genießen einfach die Schönheit dieses Raums. "Schönheit wird die Welt erlösen", sagt Dostojewski, weil er gerade als Russe weiß, wie hässlich diese Welt sein kann. Unsere Kirche ist offen, zuweilen lassen sich Brautleute bei uns fotografieren. Studenten kommen, auch wegen der jährlichen Propsteiseminare und Kulturtage. Gute Predigten ziehen die Intelligenz an, das ist unsere Chance in diesem Land. Wenn die Gemeinde im Gottesdienst die Taizé-Liturgien vierstimmig singt, beeindruckt das - wie auch unsere Orgelmusik. Wir bekamen eine Orgel aus Australien und eine aus Deutschland geschenkt. Zu den größten Deutschlanderlebnissen russischer Weltkriegssoldaten gehören Orgeln, davon schwärmen sie heute noch. Organisten kommen zu uns aus Deutschland, Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium konnten wir nun im siebten Jahr aufführen. Natürlich gibt es auch Sozialarbeit. Unser Gemeindearzt behandelt umsonst, wir hatten einen Mittagstisch für Jugendliche in unserer Kirche, jahrelang auch einen Armentisch.

Ab und zu verschwinde ich mit meinem Zelt zwei Tage und eine Nacht in den nahe gelegenen Bergen. Ich trage wie mancher Soldat des Zweiten Weltkriegs eine Russlandmarkierung am Leibe: Folgen einer leichten Erfrierung, die ich mir beim Zelten bei minus 30 Grad geholt habe. Überhaupt fühle ich mich manchmal wie ein Gefangener Russlands, ich kann hier nicht weg, solange ich keinen richtigen Nachfolger gefunden habe. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich in einem 80-Millionen-Einwohner-Land wie Deutschland nicht einige finden sollten, die auf ihre alten Tage das große Abenteuer ihres Lebens erleben möchten! Mein biblisches Lieblingswort steht bei Paulus im 2. Korintherbrief 1,9: "Das alles geschieht, damit wir unsere Hoffnung nicht auf uns selbst setzen, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt." Es gibt viele Tote aufzuerwecken, und es werden auch immer wieder ­ Tote auferweckt. Das macht  Mut.