Stadt der Kontraste

Anke Fasse teilt sich mit ihrem Mann Christoph die Pfarrstelle an der Christuskirche in Lima, Peru

06. Januar 2010

Bettler in Lima

Was für ein Tag. Über zweieinhalb Stunden dauerte die Rückfahrt vom Gefängnis zur Kirche. Ich war in einem Kleinbus unterwegs, "Mikro" nennt man die hier, durch den lauten, stinkenden und äußerst zähflüssigen Verkehr in Lima. Ich saß eingequetscht zwischen 25 oder mehr Menschen, zwei Hühnern und einer Kiste voller Meerschweinchen, die es wohl bald irgendwo zum Mittagessen geben würde. In Deutschland wären in solch einem Gefährt höchstens neun Personen zugelassen, angeschnallt und mit verschlossenen Türen. Hier sind die Busse oft so alt und überfüllt, dass die Türen selbst bei wilden Fahrten offen bleiben. Sicherheitsgurte habe ich hier noch nie gesehen. Dafür immer neue Straßenverkäufer, die ihr Angebot von Süßigkeiten, schwarz gebrannten CDs und Videos, Zeitschriften und Geschirrhand­tüchern in den Bus hineinstrecken, wann immer wir im Stau stehen. Auch bettelnde Menschen klopfen dann an die Scheiben.

Am Nachmittag hatte ich eines von drei Gefängnissen besucht, in dem auch Deutschsprachige inhaftiert sind, meist wegen ­Drogendelikten - und dann nicht selten für viele Jahre. Ich bringe ihnen etwas zum Lesen, habe für einige warme Decken dabei und unterhalte mich mit ihnen.

In den hoffnungslos überfüllten Gefängnissen herrschen feste Rangordnungen und Gesetze. Für Geld können die Gefangenen alles bekommen: Essen, ein Bett, Zigaretten und natürlich auch Drogen. Ohne Geld und ohne Sprachkenntnisse bekommen sie nichts, nicht einmal eine Matratze. Bevor ich gehe, stellen wir uns im Gefängnishof zusammen, sprechen ein freies Gebet, das Vaterunser und einen Segen. Ein sehr bewegender Moment. Dann gehen sie zurück in das Gefängnisinnere. Ich gelange durch die aufwendigen Kontrollen hinaus, um mir dort einen Mikro für die Heimfahrt zu suchen.

Seit bald einem Jahr leben mein Mann und ich mit unseren drei Söhnen in Lima. Als wir Ende Februar 2009 am Flughafen erstmals diese feucht-heiße, stickige und vor allem schmutzige Luft eingeatmet haben und dem Lärm dieser pulsierenden Stadt ausgesetzt waren, war ich schockiert. Hier sollten wir nun also die nächsten sechs Jahre bleiben?

Als mich aber vor wenigen Tagen eine Urlauberin aus Deutschland fragte, wie wir das aushalten hier in diesem Chaos, diesem Lärm und Schmutz, war ich über die Frage entrüstet - und da­rüber, wie negativ die Frau Lima wahrnahm. Ja, es ist laut, oft staubig und schmutzig, es gibt sehr viel Armut. Aber es gibt auch so viele nette und herzliche Menschen, so schöne Märkte. Ich merkte, wie ich diese Stadt der Kontraste liebgewonnen habe.

Mitten in dieser Stadt steht im Geschäfts- und Bankenviertel San Isidro die Christuskirche. Direkt neben dem höchsten Ge­bäude Perus und vielen anderen kaum weniger gigantischen ­Häusern. "Insel Navarrete" nennen viele unser Kirchengelände liebevoll, Insel in der vom Verkehr verstopften Straße Avenida Ricardo Rivera Navarrete. Unsere Gemeinde gibt es schon seit Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wurde damals in Callao gegründet, dem Hafen von Lima, wo viele Einwanderer ankamen. Erst 1954 baute sich die Gemeinde ihre Christuskirche, damals noch auf dem platten Land, umgegeben von Baumwollfeldern. Zu jener Zeit lebten weniger als eine Million Menschen in der Hauptstadt, heute sind es mindestens acht Mal so viele. Genau weiß das niemand.

Wir genießen das Leben hier am anderen Ende der Welt, auch den anderen Lebensrhythmus - Weihnachten feierten wir im Hochsommer. Die Arbeit als Pastorin ähnelt einerseits der in Deutschland, und dann ist sie auch wieder so anders. Gerade noch hielt ich die Andacht im Altenheim, dann eile ich in die Botschaft zum Empfang mit mehreren Hundert geladenen Gästen aus ­Politik, Wirtschaft und Kirche. Der Gemeindebrief muss fertig und die Reise nach Arequipa organisiert werden, in die 1000 ­Kilometer südlich gelegene Außenstelle unserer Gemeinde. Oder der Gemeindeausflug auf eine Nussplantage drei Autostunden entfernt, immer die Panamericana Richtung Süden.

60 bis 80 Menschen kommen zum Gottesdienst zusammen, zu Adventsbasar und Familiengottesdiensten natürlich erheblich mehr. Viele von ihnen sind in den 50er Jahren nach Peru aus­gewandert. Andere leben schon in der zweiten Generation hier. Wieder andere sind - wie wir - nur für einige Jahre zu Gast in diesem Land. Fast immer feiern wir den Gottesdienst auf Deutsch. Nur bei Hochzeiten wird überwiegend Spanisch verlangt. Die ­Familien mischen sich. Inzwischen sprechen auch im Umkreis unserer Gemeinde mehr Menschen spanisch als deutsch.

Das Sozialwerk unserer Kirchengemeinde heißt Casa Belén, Haus Bethlehem. Im sozial schwierigeren Stadtteil Breña unterstützen wir eine Kindertagesstätte mit 170 Kindern. Dort enga­gieren sich auch jugendliche Freiwillige aus Deutschland. Direkt daneben liegt das Büro von Diaconía, einer uns eng verbundenen kirchlichen Entwicklungshilfeorganisation. Sie entstand in den 70er Jahren nach einem großen Erdbeben mit Hilfe des lutherischen Weltbundes. Erdbeben gibt es hier immer wieder. Einige ganz schwache haben wir schon erlebt.

Schockiert war ich allerdings, als wir durch Pisco fuhren, einen Küstenort gute 200 Kilometer südlich von Lima. Er besteht bis auf ganz wenige Gebäude nur aus sehr einfachen Hütten. Überall liegen Schutt und Geröll. Ein Reiseführer beschreibt ausführlich die Hotels der Stadt, doch die sind weit und breit nicht zu finden. Ein Erdbeben hat Pisco 2007 nahezu völlig zerstört. Auch nach über zwei Jahren ist längst nicht alles wieder aufgebaut. Viele Menschen schimpfen auf den Staat, der sie nicht ausreichend unter­stützt, und auf Staatspräsident Alan García, einen Sozialdemokraten, dessen enger Freundes- und Mitarbeiterkreis vor anderthalb Jahren tief in einen Korruptionsskandal verwickelt war.

Vieles liegt hier sicher im Argen. Vor allem die Zeit des Terrorismus wirkt immer noch nach. Zehn Jahre lang, bis Mitte der 90er, hatte die maoistische Gruppe Sendero Luminoso das Land in bürgerkriegsähnliche Zustände versetzt. Die Angst und das Misstrauen von damals sind noch heute fast überall zu spüren. Fast jedes Mittel- und Oberschichthaus ist durch hohe Mauern und Zäune abgesichert. Wachleute stehen überall. Niemand ­würde sein Gartentor einfach so auflassen. Kinder können und dürfen nicht allein zur Schule gehen, sondern müssen überall hingebracht werden.

Inzwischen liegt die Kriminalitätsrate im Land im lateinamerikanischen Durchschnitt. Natürlich verhalten wir uns vorsichtiger als in Deutschland. In manche Stadtviertel fährt man nicht mit dem eigenen Auto, schon gar nicht nimmt man ein Portemonnaie oder Handy mit. Es mag merkwürdig klingen, aber auch ­daran haben wir uns gewöhnt und bisher noch keine schlechten Erfahrungen gemacht.

Die deutsch-peruanische Schule Alexander von Humboldt nimmt in unserem Alltag einen großen Raum ein. Nicht nur weil unsere Söhne sie besuchen. An zwei Tagen der Woche unterrichtet mein Mann Christoph dort evangelische Religion. Auch darüber kommen wir mit vielen Familien in Kontakt.

Eine Veranstaltung aus der Vorweihnachtszeit im vergangenen Jahr hat mich besonders bewegt: das christlich-jüdische Versöhnungsgebet am 9. November in der Synagoge. Jeweils zwei Menschen aus der deutschsprachigen evangelischen, der katholischen und der jüdischen Gemeinde, die noch persönlich die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben, zündeten Kerzen an. Schließlich brannten sechs Kerzen - in Erinnerung an die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden. In ihrem Licht gingen wir aufeinander zu und wünschten uns Schalom. (Quelle: Evangelisches Monatsmagazin "chrismon")