Die Zeit zwischen den Jahren

Raum für die glücklichen Momente des Zweckfreien

29. Dezember 2009


Stade Zeit, Ausnahmezeit – die Zeit „zwischen den Jahren“. Arbeitnehmer, die zwischen Weihnachten und Silvester ins Büro gehen, wissen wovon die Rede ist: Die Straßen sind leer, die Büros auch, das Telefon klingelt wenig, das Emailaufkommen ist schwach. Die Schüler genießen die Ferien, die meisten Menschen haben Urlaub oder bummeln Überstunden eines fleißigen Jahres ab. Matthias Drobinski beschrieb diese Tage in der Süddeutschen Zeitung: „Ab Montag geht das Leben weiter; doch ein paar Tage lang haben die Leute Zeit, es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Es ist die beste Zeit für den Familienkrach. Oder es öffnet sich der Raum für die glücklichen Momente des Zweckfreien.“

Das besondere an der „staden Zeit“, so Drobinski, ist, dass es eine kollektive Auszeit ist. Das Zeitalter von Multitasking-Existenzen, die allzeit und überall erreichbar sind und wo Arbeits- und Freiheit mitunter fließend ineinander übergehen, macht solche gemeinsame Freizeit kostbar. „Weil die komplizierten Zeitabläufe der Vielfach-Verpflichteten sich immer seltener einander anpassen lassen, nimmt die allein verbrachte freie Zeit zu, der kollektiv zu nutzende Freiraum ab. Kollektive Freizeit war oft genug einengend, schmeckte nach Sonntagslangeweile und juckte wie eine wollene Kirchgangshose. Inzwischen aber wird das Vakuum spürbar, das entsteht, wenn zu viele der gemeinsamen Räume verlorengehen.“

Matthias Kamann stellte schon Anfang Dezember in der WELT fest, dass sich die Verhältnisse merkwürdig umgekehrt haben: War früher der Advent die Zeit der Besinnung (und ursprünglich sogar eine Fastenzeit), so herrscht heutzutage in den Wochen vor Weihnachten Hektik und „bewegte Festlichkeit“, während mit Weihnachten stille Häuslichkeit einkehre.

Der Soziologe Hartmut Rosa ruft in diesem Zusammenhang dazu auf, die „Kulturtechniken der Muße“ wieder zu entdecken. In der ZEIT warnt der Gesellschaftswissenschaftler vor einer zunehmenden Beschleunigung der ganzen Gesellschaft. „Wir versuchen, mehr Dinge in kürzerer Zeit zu erledigen. Wir essen Fast Food, statt in Ruhe zu kochen, machen Multitasking auf der Arbeit, power nap statt Mittagsschlaf oder lassen die Pausen gleich ganz weg.“

Dem Innehalten stehe im Weg, dass „wir ständig das Gefühl haben, Zeit sei kostbar und dass sich deshalb jede Aktivität rechtfertigen müsse“, so Rosa, der die Beschleunigung des modernen Alltags erforscht. Der Versuch, immer mehr Erlebnisse in einen festen Zeitraum zu packen, stets zwischen konkurrierenden Alternativen abzuwägen, koste viel Energie, gibt Rosa zu bedenken.

Das große Missverständnis in einer „Beschleunigungsgesellschaft“ ist Rosa zufolge die Meinung, man könne souverän über seine Zeit bestimmen: „Wenn die ganze Gesellschaft beschleunigt, kann ich nicht einfach individuell langsamer laufen, sonst stolpere ich und falle auf die Nase.“ Als kollektives Problem werde die Entwicklung aber noch nicht verstanden. Dabei zeigten Psychologen, Soziologen und Hirnforscher, wie wichtig die Muße sei.

Die Kirchen setzen sich dafür ein, dass das ganze Jahr hindurch wenigstens einmal in der Woche Zeit für Muße oder „stade Zeit“ ist – am Sonntag. „Wir brauchen eine Unterbrechung all des Rennens, Besorgens und Schaffens, wir brauchen einen Rhythmus von Arbeits- und Feiertagen, damit unsere Gesellschaft nicht einem kollektiven Burn-out-Syndrom unterliegt“, erklärte die EKD-Ratsvorsitzende, Landesbischöfin Margot Käßmann im Zusammenhang mit dem Verfassungsgerichtsurteil zu den Ladenöffnungszeiten. „Unsere Gesellschaft lebt auch davon, dass Menschen aus unterschiedlichen Lebenszusammenhängen Zeit miteinander verbringen können: im Gottesdienst, bei Aktivitäten im Sportverein, bei Dorf- und Stadtteilfesten, bei Kulturveranstaltungen. Deswegen setzt sich die evangelische Kirche dafür ein, dass möglichst viele Menschen sagen können: Gott sei Dank – es ist Sonntag.“