An Weihnachten kommt die Wirklichkeit nach Hause

Von Landesbischöfin Margot Käßmann

24. Dezember 2009


Ein letztes Mal streicht der Rentner sanft über das Dach des kleinen Stalls, den er für seine Tochter gebaut hat. Sie ist in die Fremde gezogen und hat sich für ihre eigene Wohnung Krippenfiguren schenken lassen. Nun sollen Maria und Josef, das Jesuskind, Ochs und Esel wenigstens auch eine Herberge haben – ein „zuhause“, wie es in der Weihnachtsgeschichte beschrieben ist. Die Tochter soll diese selbst gezimmerte und getischlerte Krippe bekommen, damit sie sich dort in der großen Stadt, wo sie Arbeit gefunden hat, „zuhause“ fühlt. Nicht umsonst ist er Tischler – wie Josef, der Mann aus der Weihnachtsgeschichte. Er kann aus einigen Holzstücken durch seine Hände Arbeit  zaubern, was andere erfreut, was andere brauchen.

Krippen an Weihnachten aufzustellen, ist gute Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es ist eine eigene Art die Weihnachtsgeschichte zu erzählen. Meist wird ein Stall gebaut, der mehr an die Tradition mitteleuropäischer Bauern erinnert als an die Wirklichkeit damals in Bethlehem. Dort mag dieser Stall eine unwirtliche Herberge, vielleicht auch eine dunkle Höhle gewesen sein. Aber weil in der Weihnachtsgeschichte himmlisches Licht auf menschliche Armut trifft, werden viele Ställe in unseren Krippendarstellungen als lichtumflutete Hütten gern romantisierend dargestellt. Dem neu geborenen Heiland soll – zumindest nachträglich – ein wenig weihnachtliche Wärme vermitteln werden. So wird in vielen Bildern und Geschichten zur Weihnacht in den wunderbarsten Farben ausgemalt, wie Maria und Josef in Bethlehem ankamen, keinen Platz in einem Hotel fanden und schließlich mit einem Stall Vorlieb nahmen, wo dann dieses Kind geboren wurde. In manchen Geschichten ist zu erfahren, wie Josef Feuer für den Stall besorgte, das Kind in daunenweiche Windeln gewickelt wurde, die Hirten auf Besuch kamen und das Kind umhegten und pflegten. Auf die Gerüche dieser Geschichte wird allerdings gern verzichtet –den realen Stallgeruch von Ochs und Esel kann wohl niemand schön reden.

Doch der Ort, an dem uns Jesu Geburt geschildert wird, war gewiss nicht romantisch. Maria und Josef waren unterwegs, zum Schluss sogar auf der Flucht. Schwanger auf dem Weg in die Fremde, später mit dem Kind auf der Flucht gar ins Ausland. Was heißt das für eine junge Frau? Wie viele Ängste gibt es da! Das zeigt deutlich: Gott kam nicht in eine ideale Welt. Dort, in Bethlehem, im Nahen Osten ist nicht alles „richtig“, nicht ideal und vorzeigbar, nicht glanzvoll. An diesem Ort der Geburt Jesu ist nichts perfekt – und genau das finde ich bewegend. Die Menschen damals in Bethlehem mussten angesichts der Volkszählung zusammen rücken, einander und Gott vertrauen – die Hirten, die Armen, sie haben damit begonnen.

„Sie hatten keinen Raum in der Herberge,“ heißt es bei Lukas (2,7). Deshalb, so weiß der Evangelist, wickelt Maria das Kind in Windeln und legt es in eine Krippe. Da ist übrigens gar keine Rede von einem Stall. Das griechische Wort für Krippe meint einfach nur „Vertiefung“, vielleicht am besten mit „Futtertrog“ zu übersetzen. Das deutsche Wort Krippe, von „Krebe“ abgeleitet, bedeutet „Flechtwerk“. Beim besten Willen und wie immer es auch gewesen sein mag: praktisch oder gar perfekt war es sicher nicht. Und eben auch nicht das, was wir uns unter einem „zuhause“ vorstellen.

Die Suche nach einem „zuhause“ wird im Leben des Neugeborenen eine herausragende Rolle spielen. „Von Nazareth“ wird er genannt werden, weil seine Eltern aus Nazareth kommen – aber seine Predigt will in diesem Ort niemand hören. Eine der wichtigsten Geschichten, die er erzählen wird, berichtet von dem Sohn, der sein „zuhause“ verlassen hat, sein Erbe verprasst und dann, als er aus dem Schweinetrog sich ernähren musste, wieder – zur Freude seines Vaters – sein „zuhause“ wieder fand. Und an einer anderen Stelle wird deutlich, wie sehr er ein „zuhause“ vermisst: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ (Lk 9,58)

„zuhause“ das ist Ausdruck menschlicher Geborgenheit. Die Weihnachtsgeschichte aber macht deutlich, dass diese Geborgenheit eine große Sehnsucht der Menschen bleibt. Wir möchten uns beheimaten, zugehörig fühlen, geliebt und vertraut sein. Und doch erleben wir oft all die Brüche im Leben, all die Angst und auch Abgrenzung. Und dann kann eine überraschende Begegnung, eine Situation dieses Gefühl von „zuhause“ auslösen und uns zutiefst berühren. So wie Maria, die all die Worte hört und in ihrem Herzen bewegt und in all dem Chaos wohl doch Zuversicht, Gottvertrauen spürt.

Die Volksfrömmigkeit hat – und das ist gut so – diese Sehnsucht mit einem Stall, wie wir ihn aus Ostfriesland oder aus dem Harz kennen, aufgefangen. In Afrika kann das eine Rundhütte sein, am Nordpol ein Iglu. Es sind Symbole einer Geborgenheit, zu der es keinen Sicherheitsschlüssel mit dem Schild „zuhause“ braucht. Mich bewegt immer wieder diese Spannung zwischen dem doch so intimen Moment einer Geburt und der Öffentlichkeit, die durch die Hirten, die Weisen, ja auch das Vieh dargestellt wird. Darin steckt die kaum zu fassende theologische Gegensätzlichkeit unseres Glaubens: Gott kommt in diese Welt, kommt in sein Eigentum – und erscheint in einem kleinen, wehrlosen Kind in einem Futtertrog bei den Armen. Gott hat kein „zuhause“, zumindest keines, das menschlichen Vorstellungen entspricht.

Krippenbauer – wie jener Rentner, der für seine Tochter eine Krippe zimmert – wollen dem Neugeborenen zumindest das Dach über dem Kopf gönnen, wohl wissend, dass dies die Würdelosigkeit dieser Geburtssituation nur ein wenig erträglicher macht. Krippenbauer wollten aber noch ein zweites: Sie holten die Geschichte aus Bethlehem in unsere Wirklichkeit, in die Ställe von Ochs und Esel, wie sie zumindest heute noch auf dem Land anzutreffen sind. All die Ställe, Lattenverschläge oder Hütten, die in den Jahrhunderten gebaut worden sind, und Weihnachten für Weihnachten unter oder neben dem Tannenbaum aufgebaut werden, geben dieser Geschichte aus einer anderen Welt in unserer Wirklichkeit ein „zuhause“.

Letztendlich ist die Weihnachtsgeschichte unsere Geschichte und für viele Menschen auch so etwas wie ein Teil „zuhause“. So wie jener Tischler, der seiner Tochter einen Stall für ihre Krippenfiguren gezimmert hat, nicht nur um den Figuren der Weihnachtsgeschichte, sondern auch um seiner Tochter ein „zuhause“ zu schenken. Geschichten verändern sich für uns, weil wir sie in immer neuer Situation hören. Die Weihnachtsgeschichte hat, auch wenn Maria und Josef im Lauf der Jahrhunderte ein zugiges Stalldach über ihre Köpfe bekommen haben, aber nichts von ihrer grundsätzlichen Botschaft verändert: Der neu geborene Heiland ist nicht in einem Palast der Gleichgültigkeit auf die Welt gekommen, sondern in der rauen Wirklichkeit bitterer Armut. So ist eines deutlich, auch wenn aus der Vertiefung in einer Stallhöhle oder dem geflochtenen Futterkorb, eine gezimmerte Holzkrippe geworden ist: Das Holz der Krippe bei der Geburt ist auch das Holz des Kreuzes beim Tod am Karfreitag. Und erst zwei Tage danach wird wirklich deutlich, was wir feiern und im vielleicht bekanntesten Weihnachtslied singen: „Christ der Retter ist da.“

(Text aus der "Evangelischen Zeitung", Hannover, Braunschweig, Oldenburg und aus "Die Kirche, Berlin" - Bild aus Margot Käßmann, "Weihnachten - Der andere Blick", Lutherisches Verlagshaus Hannover 2009, Foto: Pixeltrude/photocase.com)