Integriert in die Ökumene

Joachim Diestelkamp und seine Frau Corinna arbeiten als Pfarrer in Dublin

30. November 2009


"Rückt einmal ein Stück zusammen, da steht noch eine ganze Schlange Kinder draußen vor der Tür!" Elvira leitet heute den Kindergottesdienst. Schon vorher hatten wir in unserer gemütlichen St.-Finian's-Kirche Klappstühle herbeischaffen müssen - jetzt drängeln sich die Kinder in unsere Gemeinderäume. Wir brauchen fast zehn Minuten, um uns hineinzuschachteln ins "Lutherhaus", schließlich zählen wir 44 Kinder plus etliche Mütter und Väter in den beiden je 25 Quadratmeter großen Räumen. "Gut, dass wir heute nicht basteln wollen", lacht Elvira, "das wäre unmöglich bei der Enge." Wir freuen uns an den vielen jungen Menschen und sind zugleich an unserer Kapazitätsgrenze.

Als vor etwa 20 Jahren das alte viktorianische Haus neben der St.-Finian's-Kirche zur Pfarrwohnung mit integriertem "Gemeindehaus" umgebaut wurde, konnte sich niemand in der Gemeinde solch einen Ansturm junger Familien und junger Erwachsener vorstellen. Anfang der 90er Jahre war der berüchtigte keltische Tiger noch ein kleines Kätzchen, der irische Wirtschaftsboom steckte noch in den Kinderschuhen.

In den 60ern prägten Frauen, Jugendliche und kleine Kinder das Stadtbild; die Männer waren dort, wo es Arbeit gab: im Ausland. Jahrhundertelang sind Iren nach Großbritannien, Amerika, Australien, Neuseeland und Europa ausgewandert, plötzlich drehte sich der Migrationsstrom um. Viele Iren kamen zurück, brachten hervorragende Sprachkenntnisse und nicht selten liebe Menschen aus dem Ausland mit - auch aus Deutschland.

In ihrem Gefolge kamen dann Polen, Nigerianer, Brasilianer, Letten, Rumänen... und noch mehr Deutsche. Irland ist international geworden. Vor 15 Jahren, sagen die Leute, hat man sich nach einem Schwarzen auf der Straße noch umgedreht, heute sind zehn Prozent der Bevölkerung nicht in Irland geboren. Welch unvorstellbare Integrationsaufgabe dieses kleine Land zu leisten hatte oder besser gesagt: jetzt leisten muss! Schon als alle Arbeit hatten, war die Gastfreundschaft in Irland besonders auffällig. Jetzt aber wird sie zur Herausforderung, mitten im wirtschaftlichen "Downturn", vermutlich dem schlimmsten seit der Revolution in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Bevölkerung in der Republik ist in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen, und nun möchten die "New Irish", wie man hier sagt, also die Zuwanderer, nicht freiwillig wieder gehen. In ihren Heimatländern ist die Lage oft bei weitem schlechter, so zum Beispiel in Lettland.

Sie sind auch unsere Gäste: die lettischen Lutheraner, die seit etwa fünf Jahren einen eigenen Gottesdienst in ihrer Muttersprache feiern. Eine kleine Gruppe war es zuerst, die Pastorin kam einmal pro Monat aus London. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde mit finanzieller Hilfe aus den USA und Lettland ein Pastor nach Dublin entsandt. Bisher war unsere vorwiegend aus Auslandsdeutschen bestehende Gemeinde die einzige "Lutheran Church in Ireland" - jetzt gibt es zwei, allerdings unter einem Dach: Die Letten nutzen unsere Kirche und unser Gemeindehaus fast so intensiv wie wir selber.

Das zwingt meine Frau und mich zu einer geradezu generalstabsmäßigen Raumplanung. Zwischen Jugendgruppe und lettischer Hochzeit, zwischen unserem Kindergottesdienst und lettischem Kirchkaffee fegen wir die Räume und kontrollieren den Müll (nicht allen fällt das Mülltrennen leicht!). Die Pfadfinder quetschen wir in die enge Sakristei, während die Kindergruppe im Lutherhaus bastelt, und wenn der lettische Chor in der Kirche probt, müssen wir die Gruppe junger Erwachsener bitten, die Störung zu ertragen, wenn Sänger durch den Gruppenraum zur Toilette stiefeln. Daneben gibt es monatliche Gottesdienste der lutherischen Polen und unregelmäßige Gottesdienste der Finnen, Schweden, Esten sowie der Brüdergemeinde - alle wollen auch das Lutherhaus nutzen. Und dann sind da ja auch noch die lettische und die finnische Wochenendschule sowie die Yoga­Gruppe als Mieter! Wir sind seit 1987 im pfarramtlichen Dienst, und noch nie zuvor hatten wir erlebt, dass eine Kirche jeden Sonntag von zehn bis 20.30 Uhr fast ununterbrochen belegt ist. Im Lutherhaus ist das nicht nur am Sonntag so.

Nun werden wir auf Neuland geschickt: Die Gemeinde will bauen. Unser Haus braucht dringend Erweiterung, gleichzeitig möchten wir es gegen den allgegenwärtigen Wind isolieren und umweltfreundlicher gestalten. Unser Architekt kommt uns finanziell entgegen, und für die Arbeit mit uns poliert er sein Deutsch auf. Nur: Reich ist unsere Gemeinde nicht, und unsere lettische Schwesterkirche steht überhaupt noch sehr am Anfang. Wir hoffen auf die praktische Mitarbeit vieler Gemeindeglieder, aber ohne großzügige Unterstützung aus Deutschland ist gar nicht daran zu denken, auch nur einen Bauantrag zu formulieren. So hoffen wir, dass wir vielleicht im nächsten Jahr einen ersten Spatenstich tun können.

Manchmal sind wir unsicher: Ist es richtig, so viel Zeit und Geld in diesen schwierigen Zeiten fürs Bauen einzusetzen? Fest steht: Wir brauchen den Platz nicht nur für das gewachsene reichhaltige Angebot an Gruppen, sondern auch weil die große Offenheit unserer lebhaften Gemeinde zu ihrem Profil gehört.

Besonders ist an St. Finian's in Dublin, dass die Atmosphäre so warmherzig ist. Das betonen nahezu alle, die unsere Gemeinde wieder verlassen. Mindestens ein Viertel der Gemeinde wechselt etwa jedes Jahr. Es heißt also ständig, Abschied zu nehmen und auf neue Gesichter zuzugehen. Zum Arbeiten, Studieren oder als Au-pair kommen junge Leute für nur ein Jahr, da muss das Kennenlernen schnell gehen. Zu unserem großen Erstaunen kann das eine Gemeinde lernen: Nicht nur an der Tür, sondern auch beim Kaffee nach dem Gottesdienst fühlen sich Fremde willkommen, und die Gemeinde wird als ausgesprochen offen und herzlich erlebt.

Diese lebhafte Gemeinschaft genießen deutschsprachige und internationale Lutheraner in und um Dublin. Sie ist das Standbein unserer Arbeit. Und dann fahren wir los: Nach Belfast bin ich jeden Monat einmal unterwegs, in größeren Abständen genießen meine Frau oder ich eine Reise an die Westküste, in den Süden des Landes oder in die Mitte. Die Gruppen in Wexford oder Limerick sind klein, wer zu den Treffen kommt, sucht hauptsächlich den Gottesdienst in deutscher Sprache, die Begegnung, das gemeinsame Kaffeetrinken, den Austausch.

Wir dürfen die unterschiedlichsten Kirchen nutzen - je nachdem, wo gerade Kontakt besteht. Denn sehr viele unserer Gemeindeglieder leben eine Art Doppelmitgliedschaft, sie sind eingebunden in eine lokale Gemeinde, sei es in die Church of Ireland oder in eine methodistische oder presbyterianische Gemeinde oder in eine Brüdergemeinde. Deutsche Familien finden in englischsprachigen Ortsgemeinden Angebote, die wir ihnen besonders außerhalb Dublins nicht geben können.

Uns beglückt, wie fruchtbringend unsere kleine Auslandskirche in die irische Ökumene integriert ist. Wir sind hochakzeptiert, und im Irischen Kirchenrat sowie im Dubliner Kirchenrat erwarten unsere Partnerkirchen unsere aktive Mitwirkung. Wir genießen die Ausflüge von unserer "deutschen Insel" ins irische Meer, die Sprache, die vielfältigen kirchlichen Traditionen und die Auseinandersetzung mit einer nach wie vor bis in alle Fasern römisch-katholisch geprägten Gesellschaft.

Gut drei Jahre sind wir nun schon in Irland. Drei randvoll gefüllte, glückliche Jahre. Für unsere Kinder war die schulische Umstellung schwer, aber insgesamt war der Schritt, ins Ausland zu gehen, auch für unsere Familie ein großer Gewinn.