Respekt vor Pastoren ist sehr groß

Annette Bode ist Lehrerin. Ihr Mann Christoph Roller ist Pfarrer der Evangelischen Gemeinde Deutscher Sprache in Nigeria

16. November 2009


Vor einigen Monaten, als mein Mann einmal keinen Gottesdienst in unserer evangelischen Gemeinde zu halten hatte, besuchten wir am Sonntag die katholische Kathedrale. Viele der etwa 1000 Gläubigen verfolgten die Messe von draußen, sie standen unter einem überdachten Anbau. Wir hatten drinnen einen Platz ge­funden. Während des Gottesdienstes hörten wir plötzlich einen Knall. Christoph meinte, es sei wohl ein Reifen geplatzt. Doch kurz darauf brach Panik aus. Wir verließen die Kathedrale durch einen Nebenausgang. Als die Messe ihren weiteren Verlauf nahm, berichtete der Priester, eine Frau sei auf der Straße überfallen worden und habe in der Menge Schutz gesucht. Doch der Räuber folgte ihr in die Kirche, erschoss sie vor den Augen der anderen, schnappte ihre Handtasche und verschwand.

Seit September 2008 wohnen mein Mann und ich in Beachland, einem Stadtteil der Metropole Lagos. Der Großraum Lagos hat etwa 17 Millionen Einwohner, aber das kann man nur schätzen. Viele Leute, die wir in anderen Gegenden Nigerias und Afrikas kennengelernt haben, bedauern uns. Andere bewundern uns dafür, dass wir das hier alles aushalten. Die Kriminalität zum Beispiel. Die Polizeiwache befindet sich direkt neben der Kathedrale. Doch das heißt nicht viel. Man sagt, die Polizei greife nicht ein, weil die Kriminellen bessere Waffen haben.

Bei dem erwähnten Überfall hatte der Gewalttäter nicht einmal die Kirche respektiert. Dabei sind alle uns bekannten Nigerianer sehr fromm. Selbstverständlich gehen sie sonntags in den Gottesdienst. Unser deutscher Schulleiter, der das nicht tut, sieht sich ständig den Missionierungsversuchen seiner Hausangestellten ausgesetzt. Für die meisten ist unbegreiflich, dass zu unseren ­Gottesdiensten nur zwanzig Leute kommen.

Auch der Respekt vor Pastoren ist sehr groß. Einmal fuhr Christoph falsch in eine Einbahnstraße hinein - eigentlich kein Problem in Lagos, das tun alle. Doch er stieß direkt auf eine ­Polizeistreife. Statt Schmiergeld bot mein Mann dem Polizisten seinen Segen an. Der war begeistert: "Danke, Pastor, aber nie wieder die falsche Richtung nehmen!" Christoph versprach es, wir durften weiterfahren.

Die Kinder im Religionsunterricht, die Ahnung von Religion ­haben, kommen aus binationalen Familien: der Vater deutsch, die Mutter Nigerianerin. Sie sorgt für die religiöse Erziehung. Diese Kinder sind in der Bibel unglaublich beschlagen. Einige rufen, wenn sie beim Mensch-ärgere-dich-nicht eine Sechs würfeln: "Halleluja!" Aber man muss ihnen auch ständig die Hölle ausreden.

Neujahr 2009 reisten wir erstmals nach Lomé, der Haupstadt von Togo - zu einem Treffen der deutschen Pfarrer in Afrika. Von Lagos zur Grenze nach Benin fährt man circa eine Stunde. Es gab mindestens 20 Kontrollen auf der Schnellstraße. Manchmal ­stehen dort Polizisten, manchmal selbst ernannte Wachposten. Schon ihre Ausstattung wirkt lustig. Nicht selten greifen sich die Männer morgens irgendetwas Respekteinflößendes, Hockey- oder Golfschläger zum Beispiel. Wer auf Vorhaltungen - oft aus der Luft gegriffen - nicht mit etwas Geld reagiert, kann stundenlang festgehalten werden. Uns winkte man immer durch - wohl wegen der Aufschrift "German Congregation of Nigeria" auf dem Auto.

In Benin hatten wir das Gefühl von Freiheit. Da saßen Menschen in Straßencafés, der Verkehr war erträglich, die Straßen hatten kaum Schlaglöcher. In Lomé ließen wir es uns eine Woche im Seemannsheim gutgehen. "Es ist der schönste Ort zwischen Lagos and Dakar", hatte mir ein betrunkener schwedischer Matrose versichert. Von dort besuchten wir auch die deutschsprachige Gemeinde in Accra, Ghana, für die mein Mann ebenfalls zuständig ist. Accra ist anders. Man kann ruhig im Garten sitzen, ohne den Lärm der Generatoren, die bei uns für Strom sorgen. Man kann sich ohne größere Staus im Verkehr bewegen und nach Einbruch der Dunkelheit das Haus verlassen - in Lagos unmöglich.

Auf der Rückreise aus Ghana waren wir knapp dran. Die ­Grenze nach Togo schließt um 22 Uhr. Ghanaische Grenzbeamte gaben uns mit Unterstützung einiger Cedis (ghanaisches Geld) in Windeseile sämtliche Stempel. Hinter uns schloss sich das Tor. Leider öffneten die Togoer nicht ihres. Nach Ghana kamen wir nicht zurück, nach Togo nicht hinein. Kurz nach zehn standen wir also in einer Art Käfig, so lang wie unser Auto, dafür ziemlich breit. Mein Mann - "Kämpfer gegen die weltweite Korruption" - weigerte sich, noch mehr zu schmieren. Auch war unklar, ob diejenigen, die geschmiert werden wollten, uns überhaupt hätten helfen können. Bis um sechs Uhr früh standen wir im Niemandsland, wurden von Mücken zerstochen und konnten nicht aufs Klo.

Einmal im Monat betreut mein Mann die Gemeinde in Abuja im Binnenland. Manchmal fliege ich mit. Eine Deutsche - Annegret - und ihr nigerianischer Mann bewirtschaften dort die Farm Hope Eden und ein kleines Gästehaus, wo gestresste Großstädter wie wir sich entspannen. Das Klima auf 300 Meter Höhe ist ­angenehmer als in Lagos. Abends kühlt die Luft ab, morgens ist sie frisch. Man braucht nicht ständig eine Klimaanlage. Es gibt nicht viele Mücken, es ist nicht sehr feucht. Abends kann man  draußen  sitzen. Eine richtige Afrikaidylle, zwar ohne fließendes Wasser, aber mit Brunnen, Holzkohlenfeuer, Sonnenuntergang, Ziegen, Hühnern, Pfauen und Schlangen.

Im vergangenen Jahr starb der Bruder unserer Hausangestellten Comfort mit 28 Jahren. Sie nahm 14 Tage Urlaub für die Beerdigung. Ihre Schwägerin ist schon länger tot, ihre sechs ­Neffen und Nichten sind jetzt Vollwaisen. Die Großfamilie sorgt für sie, meist funktioniert das noch in Nigeria, besonders auf dem Dorf. Die Kinder müssen nicht auf der Straße leben - wie viele Waisen hier in Lagos, die kriminell und gewalttätig werden.

Unsere Gemeinde unterstützt drei Hilfsprojekte. Zunächst ist da ein Haus mit psychisch kranken Obdachlosen. Eine Mrs. Martins sammelte Menschen von der Straße auf, gab ihnen Unterkunft, Essen und medizinische Versorgung. Keiner schien arbeitsfähig, auf der Straße würden wohl alle sterben. Viele haben früher mal studiert, hatten gute Posten oder gar im Ausland gearbeitet. Heute ist daraus eine kleine Institution geworden.

Daneben gibt es ein Waisenhaus. Die Kinder gehen zur Schule und tragen gute Kleidung. Das jüngste Mädchen hatte man ge­rade blutig und mit unversorgter Nabelschnur auf der Straße gefunden. Das Heim platzt bald aus allen Nähten. Trotzdem: Wer sich nicht selbst versorgen kann, darf bleiben. Manche haben schon eigene Kinder. Keines wird zur Adoption freigegeben.

Das dritte Projekt: ein Wohnheim für behinderte junge Erwachsene. Einigen sind die Arme auf den Rücken gebunden, damit sie sich nicht selbst verletzen. Einige kriechen auf dem Boden und stoßen Schreie aus. Andere sind inkontinent - der Urin wird nicht sofort aufgewischt. Sie freuen sich über unseren Besuch und feiern mit uns Erntedank. Dann sind sie ordentlich angezogen und sauber. Mich beeindruckt, dass sich Menschen für diese Behinderten einsetzen, auch mit eigenem Geld, obwohl jeder ums Überleben kämpft. Nebenbei bemerkt: Bitte keine Altkleider mehr nach Afrika spenden! Im Obdachlosenhaus waren ganze Kleiderberge aufgetürmt. Die Mitarbeiterinnen sagen, sie brauchten Geld für Nahrung und Schuluniformen, aber bloß nicht noch mehr ­gebrauchte Kleider.

Advent und Weihnachten erleben wir auch in diesem Jahr bei 30 Grad Celsius im Schatten. In der deutschen Gemeinde singen wir "Leise rieselt der Schnee", essen importierten Spekulatius und trinken Glühwein. Auch die Nigerianer mögen solche westlichen Bräuche. Kein Supermarkt ohne Weihnachtsmann, Plastiktanne und Glitter, Präsentkörbe und "Stille Nacht" - auf Englisch.

Die Gemeinde verkauft einen Kalender für 2010 mit dem Titel "Headmasterns". „Headmasters“ sind Lebenskünstler, die „Dinge auf den Kopf stellen“, um aufrecht und mit Würde die Mühe eines Tages zu balancieren.“.  Der größte Teil des Erlöses fließt in die Charity Projekte, zu denen die Gemeinde gute Kontakte pflegt. Bestellungen unter: roller@gmoe.de