Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Leistungen

Was unsere Gesellschaft nicht vergessen darf

30. Oktober 2009


Der CDU-Politiker Volker Rühe hatte im Zusammenhang der Vereinigung Deutschlands gesagt, unser Land werde nun „nördlicher, östlicher und protestantischer“. Tatsächlich bescherte die Entwicklung der evangelischen Kirche einen Mitgliedergewinn und sorgte dafür, dass es zwischen Rhein und Oder – zumindest für einige Jahre – mehr Protestanten als Katholiken gab. In einem ist Deutschland allerdings wirklich protestantischer geworden: Im Zuge der Vereinigung ist in den fünf neuen Bundesländern der Reformationstag als staatlicher Feiertag eingeführt worden. In den Genuss eines arbeitsfreien Tages kommen nicht nur die gut 20 Prozent evangelischen Christinnen und Christen, sondern auch Katholiken und die etwa 75 Prozent der Bevölkerung, die entweder längst aus der Kirche ausgetreten sind oder nie Mitglied waren.

Am 31. Oktober gedenkt die evangelische Kirche deutschlandweit in Gottesdiensten, was die Reformation Martin Luthers gebracht hat. Mit seinen 95 Thesen hat der katholische Mönch im Jahre 1517 den Startschuss zu Veränderungen in Europa gegeben, die er sich selbst kaum hätte träumen lassen. An erster Stelle ist seine Übersetzung der Bibel ins Deutsche zu nennen, die unsere Sprache bis heute prägt. Aus der Übersetzung folgte konsequenterweise ein Bildungsprogramm, das über die Reichen hinaus erstmals alle Schichten der Bevölkerung erreichte. „Dass man die Kinder zur Schule halten solle“, war eine wichtige Forderung Luthers, durch die Menschen mündig wurden. Übrigens auch in der evangelischen Kirche, in der Nichtordinierte seit jeher ein hohes Mitspracherecht genießen. Die säkulare Dimension dieses evangelischen Freiheitsverständnisses markierte den Beginn neuzeitlicher Autonomie gegenüber allem überlieferten Gehorsam. Und die von ihm angestoßene Trennung kirchlicher und staatlicher Aufgaben wurde zu einem entscheidenden Merkmal für den modernen Staat.

Über all dies hinaus ist jedoch der religiöse Auslöser für die Reformation Luthers weithin in den Hintergrund getreten: die Rechtfertigung allein aus der Gnade Gottes. Man sollte dies nicht vorschnell als frommes Gerede abtun. Denn die Einsicht, die sich dahinter verbirgt, ist aktueller denn je. Es geht bei der Rechtfertigung im Kern um die Frage nach dem Wert eines Menschen. Unser Leben ist von einer ständigen Ökonomisierung bedroht. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Ich leiste etwas, also bin ich etwas, lautet das ihr zugrundeliegende Prinzip. Das soll auch nicht vorschnell kritisiert werden. Aber was ist, wenn einer nicht mehr in der Lage ist, etwas zu leisten – als Folge von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter? Wer keine Leistung mehr bringt, hat in dieser Gesellschaft auch keinen Platz, lautet die ernüchternde Botschaft. Man muss sich als „nützlich“ erweisen, etwas „verdienen“. Was nicht nützlich ist und was keinen Gewinn abwirft, wird abgestoßen.

Wenn nicht alles täuscht, dann gilt dies bald in noch radikalerem Sinne: Wie viel Gesundheit, wie viel Pflege im Alter können wir uns noch leisten? Verdient behindertes Leben überhaupt das Etikett „lebenswert“? Angesichts des medizinischen Fortschritts in der westlichen Welt und vor dem Hintergrund drastisch steigender Kosten stellt sich unweigerlich die Frage, wer das alles bezahlen soll. Luthers Einsicht, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Leistungen, hat an Sprengkraft nichts eingebüßt. Man muss nicht an Gott glauben, um zu erkennen, dass der Reformationstag in diesem Zusammenhang nichts Folkloristisch-Vergangenes erinnert, sondern, sondern unser Gemeinwesen davor bewahren könnte, ins finstere Mittelalter zurückzufallen.

Informationen zum Reformationstag