Seelsorger im „Herzen Englands“

Peter Büttner ist in Birmingham Pastor der deutschsprachigen evangelischen Gemeinden

07. Oktober 2009


Birmingham war schon immer gut auf meinem Plattenregal vertreten. Genauer gesagt das CBSO, das City of Birmingham Symphony Orchestra. Mit dabei sind alle Aufnahmen von Sir Simon Rattle, der dieses Orchester an die Weltspitze geführt hat und heute Chefdirigent bei den Berliner Philharmonikern ist. Dieses Orchester in der weltberühmten Symphony Hall zu hören, war immer mein Traum. Ich konnte ihn mir bis vor zwei Jahren nie erfüllen, trotz vieler Besuche und Urlaube in Großbritannien.

Seither bin ich nun als Auslandspastor in dieser Millionenstadt im "Herzen Englands". Zusammen mit den Vororten ist Birmingham die zweitgrößte Stadt in Großbritannien. Hier wohnen 2,6 Millionen Menschen.

Wer hier das Bilderbuch-England der Rosamunde Pilcher sucht, wird enttäuscht. Birmingham ist eine pulsierende Großstadt. Über ein Drittel der Bewohner gehören den hier sogenannten "ethnischen Minderheiten" an. In unserer Straße sind wir fast die einzigen Weißen. Ich musste mich erst daran gewöhnen, beim Arztbesuch nach meiner Rasse gefragt zu werden. Dort kreuze ich an: "weiß - nicht britisch, mitteleuropäisch". Beim Arzt kann ich das ja noch verstehen. Menschen aus verschiedenen Erdteilen reagieren unterschiedlich auf bestimmte Medikamente. Aber ­wozu muss ich meine Rasse für einen Italienischkurs an der örtlichen Volkshochschule angeben?

Mein Pfarramtsbereich "Midlands" umfasst ein Gebiet von rund 20.000 Quadratkilometern, fast die Hälfte Niedersachsens. Zu ihm gehören auch Coventry, Derby, Leicester, Lincoln und Nottingham. Jeden Sonntag, manchmal samstags, feiere ich zwei bis drei Gottesdienste in verschiedenen Städten. Da kommen leicht 500 Kilometer Fahrstrecke zusammen. Ohnehin verbringe ich 40 Prozent meiner Arbeitszeit im Auto, unterwegs zu Veranstaltungen, Krankenbesuchen und Beerdigungen.

Leicester könnte schon in zwei Jahren die erste Großstadt Europas mit einer nichtweißen Mehrheit sein. Neben der anglikanischen Kirche, in der wir unsere Gottesdienste feiern, steht dort eine große, schöne Moschee. Wie in Birmingham gibt es Synagogen, Hindutempel und christliche Kirchen aller Konfessionen.

Als Deutscher stehe ich der traditionellen englischen Kultur näher als viele Einwanderer. Dennoch bin ich hier der Ausländer. Die Kinder der Inder, Pakistanis (vor allem Kaschmiris) und Jamaikaner haben den britischen Pass. Bis zum vergangenen Jahr hatte Birmingham einen Oberbürgermeister, der vor 25 Jahren aus Pakistan eingewandert war. In Leicester regiert eine Christin aus Indien. Zu meiner Einführung in Nottingham kam der damalige Oberbürgermeister ganz selbstverständlich als Gast, ein Muslim aus Pakistan. Er und seine Frau nahmen am Gottesdienst teil.

Die ethnischen und religiösen Gruppen leben hier im Großen und Ganzen friedlich miteinander. Besser gesagt: Es ist wohl eher ein Nebeneinanderher. Nicht nur die unterschiedliche Hautfarbe und Religion wirken trennend. Viel gravierender sind unterschiedliche Klassenzugehörigkeiten, die immer noch eine große Rolle spielen, Bildungsniveaus und Einkommensverhältnisse.

Birmingham ist die grünste britische Stadt (Superlative sind in England durchaus wichtig - von wegen "English understatement"!). Wenn wir durch den großen Park hinter unserem Haus spazieren, sind wir fast die einzigen Weißen. Im Botanischen ­Garten, ein paar Minuten entfernt, treffen wir dagegen fast nur weiße Briten. Einige Nationalitäten oder Hautfarben dominieren bestimmte Straßen, Stadtteile oder Berufsgruppen. In der Symphony Hall treffe ich fast ausschließlich Weiße.

Die Gemeinden hier sind zumeist nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden, von ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, die hier bis 1947 als Landarbeiter oder im Bergbau gearbeitet haben. Sie blieben, weil ihre Heimat (Schlesien oder Siebenbürgen) nach dem Krieg weg war. In den 50er Jahren kamen viele junge Frauen, die hier ihr Englisch verbessern wollten - und den Mann fürs Leben fanden. Die nächsten waren Ehefrauen britischer ­Soldaten, die lange in Deutschland stationiert waren.

Die englische Umwelt war zu den "ex-enemy aliens" (den ehemals feindlichen Fremden) nicht immer nur freundlich. Da es weder Internet noch Satellitenfernsehen gab und telefonieren sehr teuer war, Heimflüge nahezu unerschwinglich, boten ihre Kirchengemeinden den Deutschen etwas von der Heimat. Man sprach Deutsch, feierte vertraute Feste, pflegte gemeinsame Er­innerungen, kochte deutsch, betete in der Kirche das Vaterunser auf Deutsch und sang zu Weihnachten altvertraute Lieder.

60 Prozent der Mitglieder in unseren Gemeinden sind heute über 80 Jahre alt. Nur einige Gemeinden haben es in den vergangenen Jahren geschafft, sich auch für jüngere Menschen zu öffnen, für deutsche und deutsch-englische Familien, die hier wohnen und im Gesundheitswesen, an den Universitäten und in großen deutschen Firmen arbeiten. Die jüngeren Deutschen ­gehen allerdings meist in englische Gemeinden. Die deutschen suchen sie nur für Taufen und zu Weihnachten auf.

Über beide Weltkriege wird hier viel geredet und geforscht. Auch über die Versöhnung zwischen den ehemals verfeindeten Nationen. Dazu haben die deutschen Kirchengemeinden hier in Großbritannien viel beigetragen. Das ist Anfang November zu spüren beim jährlichen Remembrance-Day (auf Deutsch: Erinnerungstag, dem Volkstrauertag vergleichbar). Da bin ich jedes Jahr mit dem deutschen Botschafter, dem Militärattaché aus London und britischen Vertretern beim Gedenkgottesdienst auf dem zentralen deutschen Soldatenfriedhof Cannock Chase in der Nähe von Birmingham. Mehr als 5000 Tote aus beiden Weltkriegen ruhen hier.

Rund 50 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite von Birmingham, liegt Coventry, der wohl wichtigste Ort für die deutsch-britische Versöhnung. 1940 zerstörten deutsche Bomber bei einem nächtlichen Luftangriff die mittelalterliche Kathedrale. Nach dieser Nacht ließ der damalige Propst "Vater, vergib" in die Ruine schreiben. "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir ver­geben unseren Schuldigern." Es fiel ihm nicht leicht - und wurde ihm nicht leicht gemacht.

Aus der neu erbauten Kathedrale neben der Ruine werden wir am 18. Oktober 2009 einen deutsch-englischen Radiogottesdienst zum Thema "Versöhnung" übertragen (auf NDR Info und WDR 5 ab 10 Uhr). Harold Nash wird dabei sein. Er ist 87 und immer noch Woche für Woche für den Frieden unterwegs. Nash war im Zweiten Weltkrieg Navigator in einem britischen Bomber, wurde bei seinem 13. Einsatz über Hannover abgeschossen, war zwei Jahre in Litauen im deutschen Kriegsgefangenenlager, überlebte Gewaltmärsche, wurde nach dem Krieg Dolmetscher, Deutschlehrer - und Pazifist. Davon erzählt er ­heute fast jede Woche, in Schulen, Universitäten, im Fernsehen und nun in diesem Gottesdienst.

Ich lebe gern in diesem Land, in dem der Verkehr viel ruhiger fließt, in dem außer Touristen kaum jemand rote Fußgängerampeln beachtet, nicht einmal Polizisten, in dem Online-Überweisungen ins Ausland nicht möglich sind, viele Geldgeschäfte noch per Scheck abgewickelt werden, eine Überweisung bis zu fünf Tage dauern kann, sich alle überall in die Schlange stellen und geduldig warten (was Mitteleuropäer manchmal auf eine harte Geduldsprobe stellt) und viele sehr höflich und hilfsbereit sind. Ich lebe gern in dieser Stadt mit dem größten deutschen Weihnachtsmarkt außerhalb Deutschlands (mit 2,5 Millionen Besuchern 2008 und "original deutscher Currywurst"). Und mit einem der besten Orchester weltweit in einer der besten Konzerthallen mit einem der bald berühmtesten Dirigenten, dem jungen Letten Andris Nelsons.