1989: „Christsein in einem sozialistischen Staat“

Beschluss der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im September 1989

18. September 2009


Der Beschluss war ein Dokument der Entschlossenheit. Der Entschlossenheit, „Christsein in einem sozialistischen Staat zu bewähren“. Nicht der Blick nach Westen bestimmte das Denken der Teilnehmer der 5. Tagung der V. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR am 19. September 1989 in Eisenach: „Wir sehen uns heute vor die Herausforderung gestellt, Bewährtes zu erhalten und neue Wege in eine gerechtere und partizipatorische Gesellschaft zu suchen. Wir wollen mithelfen, daß Menschen auch in unserem Land gerne leben.“ In ihrem Beschluss nahmen die Synodalen Stellung zu den brennenden Fragen und Unsicherheiten der Zeit: Ihnen war klar: „Keiner hat gegenwärtig die Lösung“. Trotzdem wurden Antworten gesucht, mögliche nächste Schritte skizziert und auch selbstkritische Töne laut.

Vor 20 Jahren liefen der DDR die Bürger davon, meist waren es die Jungen. Die Synode sah sich in der Pflicht, Ursachen für diese „Massenauswanderung“ auszumachen. Elf Missstände brandmarkten die Synodalen in ihrem Beschluss, darunter das Ausbleiben „überfälliger Reformen“, der mangelhafte Umgang mit den Bürgerrechten, „ökonomische und ökologische Mißstände“, Zensur, Willkür, „Unkorrektheiten bei der Durchführung der Wahl“. Dementsprechend beinhaltet der Beschluss von Eisenach klare Forderungen an die politisch Verantwortlichen. Notwendig, so die Synodalen, seien grundlegende Reformen und eine „offene und öffentliche Auseinandersetzung mit unseren gesellschaftlichen Problemen“, eine pluralistische Medienpolitik, demokratische Parteienvielfalt, echte Wahlmöglichkeiten, Reisefreiheit. Die Wiedervereinigung Deutschlands schien ihnen unmöglich: „Wiedervereinigungswünsche wecken Ängste bei anderen Völkern“, bekundeten sie.

In Eisenach blickte man aber auch nach innen: Angesichts der damaligen Situation „haben wir im Bund der Evangelischen Kirchen Anlaß, uns selbst zu fragen, wie wir unserem Auftrag gerecht geworden sind“, so die Synodalen. Sie stellten fest, „daß unser Reden viele nicht mehr erreicht“. Nicht der Einsatz für Andere, sondern Selbstverwirklichung und ein guter Lebensstil seien den Menschen zunehmend wichtig. Einen Grund dafür sah man in der Kirche selbst: „Auch wir orientieren uns lieber an den Lebensstandard derer, die mehr haben als wir“. Die Kirche, so die Konsequenz, müsse glaubwürdiger werden - und effektiver: „Wir leiden unter der Erfahrung, dass unser Eintreten für die Rechte anderer so wenig bewirkt“.

Sehr klar benannten die Synodalen auch Gefahren, die die gesellschaftliche Neuorientierung mit sich brachte. „Die Synode bittet alle Menschen in Ost und West, neu erwachenden nationalistischen und nazistischen Stimmen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten.“

Ein friedliches Miteinander nicht nur im eigenen Land, Frieden und Abrüstung weltweit, standen ebenfalls im Fokus: „Signale des Friedens sind einseitige Rüstungs-Truppen- und Rüstungshaushaltsreduzierungen sozialistischer Staaten, auch der DDR. Wir erwarten die Antwort von NATO-Staaten, ihrerseits mit dem Abbau militärischer Ungleichgewichte zu beginnen“. Die Integration der DDR in das „Europäische Haus“ war durchaus gewünscht, Ausgangspunkt für solche Überlegungen aber blieb stets die DDR als eigenständiger Staat. Auch die grundsätzlich geforderte „Erweiterung der Dialogpolitik auf allen Ebenen“ blieb auf diesem Boden. „Gerade jetzt können wir in und zwischen beiden deutschen Staaten das „Neue Denken“ bewähren und dazu beitragen, daß nicht alte Feindbilder medienverstärkt das Klima vergiften“. Dennoch: Voraussetzung für jede weitere wünschenswerte politische und gesellschaftliche Entwicklung der DDR war unmissverständlich eine Öffnung nach innen, ein offener Dialog in der Gesellschaft und das Aufbrechen der überkommenen politischen Strukturen.

Es folgt der damalige Beschluss im Wortlaut:

Beschluß der Bundessynode in Eisenach zum Bericht des Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen und dem Arbeitsbericht des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR

Vom 19. September 1989

Die Synode des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR hat den Bericht des Vorsitzenden der Konferenz der Ev. Kirchenleitungen und den Arbeitsbericht des Sekretariats des Bundes mit Dank entgegengenommen. Ausdrücklich dankt die Synode der Konferenz für ihren Brief an den Vorsitzenden des Staatsrates, in dem zu bedrängenden Problemen unseres Landes Stellung genommen wird.

Auch von der Synode des Bundes wird erwartet, daß, sie sich dazu äußert:

Die Massenauswanderung von Bürgern der DDR in die Bundesrepublik Deutschland zwingt dazu, Ursachen dafür zu benennen, dal, offensichtlich viele, besonders auch junge Menschen, in unserem Land und für unser Land keine Zukunft mehr sehen. In der Synode wurden vielfältige Erfahrungen genannt:

  • erwartete und längst überfällige Reformen werden offiziell als unnötig erklärt;
  • die Mitverantwortung des einzelnen Bürgers und seine kritische Einflußnahme sind nicht ernsthaft gefragt;
  • den Bürgern zustehende Rechte werden vielfach lediglich als Gnadenerweis gewährt;
  • hier geweckte und von außen genährte Wohlstandserwartungen können nicht befriedigt werden;
  • ökonomische und ökologische Mißstände erschweren zunehmend das Leben;
  • Alltagserfahrungen und die Berichterstattung der Medien klaffen weit auseinander;
  • eine öffentliche Aussprache über Ursachen der Krisenerscheinungen wird nicht zugelassen;
  • Hinweise auf offensichtliche Unkorrektheiten in der Durchführung der Wahl und der Bekanntgabe des Ergebnisses blieben ohne Reaktionen;
  • offizielle Äußerungen zu Vorgängen in China und Rumänien wecken Befürchtungen und Ängste für die Zukunft;
  • gewaltlose Demonstrationen junger Menschen werden gewaltsam unterdrückt, Beteiligte werden zu Unrecht und überdies unangemessen bestraft;
  • Freizügigkeit im Reiseverkehr wird nicht gewährt.

Aus diesen und anderen Gründen sind viele Hoffnungen auf Veränderung in der DDR erloschen.

Die Folgen der Abwanderung betreffen alle in diesem Land: Familien und Freundschaften werden zerrissen, alte Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Kranke verlieren ihre Pfleger und Ärzte, Arbeitskollektive werden dezimiert, haben die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht und überschritten, die Folgen für die Volkswirtschaft sind unübersehbar. Auch Kirchgemeinden werden kleiner. Das politische Klima der Entspannung ist bedroht. Feindbilder leben wieder auf, Probleme zwischen den beiden deutschen Staaten belasten die Nachbarn, besonders Ungarn, gewachsene Beziehungen und Gespräche werden abgebrochen. Der Ost-West-Konflikt in seiner deutsch-deutschen Zuspitzung verdrängt Zukunftsaufgaben und bindet Kräfte, die zur Gewinnung von Frieden in Gerechtigkeit und zur Bewahrung der Schöpfung dringend gebraucht werden.

Angesichts dieser Situation haben wir im Bund der Ev. Kirchen Anlaß, uns selbst zu fragen, wie wir unserem Auftrag gerecht geworden sind.

Wir stellen fest, dal, unser Reden viele nicht mehr erreicht. Immer mehr Menschen fragen danach, was sie aus ihrem Leben machen können, um sich dadurch selbst zu verwirklichen. Andere, vor allem junge Menschen, können keine Hoffnung mehr benennen, die ihrem Leben ein Ziel gibt. Uns gelingt es nur schwer, die Hoffnung zu vermitteln, die uns Christen gegeben ist, und auf den vom Evangelium eröffneten Weg einzuladen, der jeden zur Erfüllung seines Lebens führt.

In der Nachfolge Jesu Christi erfüllt sich das Leben nicht in dem, was ich für mich selbst habe, sondern in dem, was ich für andere bin. Darum sind wir nicht glaubwürdig, solange unser eigener Lebensstil, als Kirche und als Christen, weniger ein Beispiel dafür ist, was wir anderen sein können, als eher dafür, was wir selber haben. Auch wir orientieren uns lieber an dem Lebensstandard derer, die mehr haben als wir, obwohl die meisten Menschen dieser Erde, auch in Europa, mit viel weniger auskommen müssen. Das wirkt sich bis in unsere ökumenischen Beziehungen aus.

Die Überzeugungskraft unseres Glaubens und Redens hängt auch davon ab, dal, wir als Kirche glaubwürdiger werden. Nach nunmehr 20 Jahren verstehen sich die im Bund zusammengeschlossenen Gliedkirchen als eine Kirche. So wird der Bund weithin auch von den Gemeinden angesehen. Trotzdem sind bisher alle Bemühungen gescheitert, unserer Gemeinschaft als Kirche eine entsprechende organisatorische Form zu geben. Unsere Gemeinschaft wird durch Alleingänge, wie zuletzt im Zusammenhang mit der Domeinweihung in Greifswald, und durch verhärtete Strukturen gefährdet. Der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit unseres Kircheseins steht uns vor Augen.

Geistlich bewegte und sozial engagierte Gruppen, die Impulse der Erneuerung in unsere Kirche tragen wollen, stehen sich zugleich verständnislos und ablehnend gegenüber. Überall dort, wo die Gemeinden tragfähige Gemeinschaften sind, können sie einladen, ohne zu vereinnahmen, und Geborgenheit geben, die zur Mündigkeit hilft. Solche Gemeinschaft erweist sich darin, daß sie trotz der Spannungen und Meinungsunterschieden zusammenbleibt in Gebet, Abendmahl und Gottesdienst. Und sie erweist sich darin, daß sie sich der in Not geratenen fernen und nahen Nächsten annimmt. Wir leiden unter der Erfahrung, daß unser Eintreten für die Rechte anderer so wenig bewirkt. Es gelingt uns schwer, so zu reden, daß die Betroffenen sich verstanden fühlen und daß uns die verstehen, an die wir uns wenden. Aber ein Reden und Tun, das wir vor Gott verantworten können, bleibt unsere Aufgabe.

Unser Glaube gibt uns Grund, nach Wegen zu suchen, die heute und morgen gegangen werden können. Wir wissen uns von Gott in unsere Zeit und an unseren Ort gestellt. 40 Jahre DDR sind auch ein Lernweg unserer Kirchen, Christsein in einem sozialistischen Staat zu bewähren. Wir sehen uns heute vor die Herausforderung gestellt, Bewährtes zu erhalten und neue Wege in eine gerechtere und partizipatorische Gesellschaft zu suchen. Wir wollen mithelfen, daß Menschen auch in unserem Land gern leben. Wir möchten sie dazu ermutigen.

So bitten wir sie, hier zu leben und einen Beitrag für eine gute gemeinsame Zukunft in unserem Land zu leisten. Wir können und dürfen aber nicht alle Probleme gleichzeitig lösen wollen.

Wir brauchen:

  • ein allgemeines Problembewußtsein dafür, daß Reformen in unserem Land dringend notwendig sind;
  • die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit unseren gesellschaftlichen Problemen;
  • jeden für die verantwortliche Mitarbeit in unserer Gesellschaft;
  • Wahrhaftigkeit als Voraussetzung für eine Atmosphäre des Vertrauens;
  • verantwortliche pluralistische Medienpolitik;
  • demokratische Parteienvielfalt;
  • Reisefreiheit für alle Bürger;
  • wirtschaftliche Reformen;
  • verantwortlichen Umgang mit gesellschaftlichem und persönlichem Eigentum; - Möglichkeit friedlicher Demonstrationen;
  • ein Wahlverfahren, das die Auswahl zwischen Programmen und Personen ermöglicht.

50 Jahre nach Kriegsausbruch wird uns erneut bewußt, daß die Erinnerung wach bleiben muß und die Aufarbeitung von Grauen und Schuld für uns Deutsche nicht abgeschlossen sein kann. Die Synode bittet alle Menschen in Ost und West, neu erwachenden nationalistischen und nazistischen Stimmen und Stimmungen mit aller argumentativen und administrativen Entschiedenheit entgegenzutreten und rechtzeitig die tieferen Ursachen für solche Erscheinungen, besonders bei der jüngeren Generation, zu erkennen und zu beseitigen.

Nach wie vor steht die unbedingte Verpflichtung im Vordergrund, für den Frieden unter den Völkern einzutreten. Es gibt ermutigende Zeichen auf dem langen Weg zum Frieden.

Das ,,Neue Denken“ hat weitere Konturen gewonnen, z. B. durch die sowjetische Einladung zu ,,globaler Solidarität“, die militärische, ökonomische und ökologische Sicherheitspartnerschaft in weltweiter Perspektive einschließt.

Signale des Friedens sind einseitige Rüstungs-, Truppen- und Rüstungshaushaltsreduzierungen sozialistischer Staaten, auch der DDR. Wir erwarten die Antwort von NATO-Staaten, ihrerseits mit dem Abbau militärischer Ungleichgewichte zu beginnen. Truppenreduzierungsverhandlungen aufgrund beiderseitiger Kompromißbereitschaft kommen voran. Immer mehr Soldaten arbeiten in der Industrie. Die Militärs beider Bündnissysteme begegnen sich.

Die Konzeption hinlänglicher Verteidigungsfähigkeit wird ebenso weiterentwickelt wie das Konzept der strukturellen Angriffsunfähigkeit. Eine Konversionsindustrie nimmt konkrete Formen an. Durch den Umbau von Raketenschleppern zu Straßenkränen wurde die prophetische Vision von ,,Schwerter zu Pflugscharen“ in unser technisches Zeitalter übersetzt.

Das Wiener Abschlußdokument eröffnet den europäischen Staaten konkrete menschliche, politische, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Perspektiven beim Bau des Europäischen Hauses. Die Synode unterstreicht, daß sie auf eine aktive Beteiligung beider deutscher Staaten und der christlichen Kirchen in diesem Prozeß hofft. Wiedervereinigungswünsche wecken Ängste bei anderen Völkern.

Die Synode erinnert an ihren Beschluß vom 20.9.1988, in dem sie festgestellt hat, ,,daß die künftige Entwicklung in unserem Land von Dialogfähigkeit und Dialogbereitschaft in Kirche und Gesellschaft wesentlich abhängt“. Es gibt keine vernünftige Alternative zur Fortsetzung und Erweiterung der Dialogpolitik auf allen Ebenen. Eine sich entwickelnde ,,Kultur des Streits“ hat in den letzten Jahren einige wichtige außen- und innenpolitische Früchte getragen.

Die Synode ist bestürzt, daß die seit langem erbetenen Sachgespräche zwischen der Konferenz der Ev. Kirchenleitungen und der Regierung der DDR nicht möglich waren und daß das für den 12.9.1989 zugesagte Gespräch zum dritten KSZE-Folgetreffen wieder abgesagt wurde; dabei sollte auch über die menschlichen Dimensionen des Helsinki-Prozesses gesprochen werden. Die Synode bedauert auch die jüngste Absage von Gesprächen zwischen Vertretern beider deutscher Staaten. Gerade jetzt sind Gespräche nötig. Gerade jetzt können wir in und zwischen beiden deutschen Staaten das ,,Neue Denken“ bewähren und dazu beitragen, daß nicht alte Feindbilder medienverstärkt das Klima vergiften. Um uns den Weg in eine sozial gerechte, demokratische, nach innen und außen friedensfähige und ökologisch verträgliche Gesellschaft nicht zu verbauen, ist jetzt ein offener gesamtgesellschaftlicher Dialog dringlich geworden. Dazu gehört auch eine Öffnung der bisherigen politischen Strukturen.

Keiner hat gegenwärtig  d i e  Lösung.

Auf der Suche nach Wegen, die Zukunft eröffnen, werden wir der Tatsache ins Auge sehen müssen, daß uns Veränderungen nicht in den Schoß fallen. Es bedarf geduldiger und beharrlicher Bemühungen. Darum wollen wir uns nicht entmutigen lassen von Schwierigkeiten und Rückschlägen, von Mißverständnissen und Verdächtigungen. Es kommt auf den langen Atem an. Unser Glaube kann uns dazu Mut und Kraft geben. Uns ist nicht verheißen, daß uns das Kreuz erspart bleibt, aber daß unser Herr mit uns das Kreuz trägt und einen Weg in die Zukunft eröffnet.

Eisenach, den 19. September 1989

Der Präses der Synode
des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR
Dr. Gaebler