Gekämpft, gehofft, gewonnen

Ludwig Baumann setzt sich seit Jahrzehnten für Deserteure ein - Bundestag will "Kriegsverräter" rehabilitieren

07. September 2009


Ludwig Baumann ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Zuhause in Bremen ringt der 87-Jährige mit seinem Anrufbeantworter, auf dem sich Interview-Anfragen aus ganz Europa türmen. Viele wollen jetzt den Vorsitzenden der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz sprechen, der sein Leben lang für die Rehabilitierung von Wehrmachts-Deserteuren gekämpft hat. Am Dienstag will der Bundestag nun einen letzten und längst überfälligen Schritt gehen und die NS-Urteile gegen sogenannte "Kriegsverräter" pauschal aufheben.

"70 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs geht für uns damit spät ein Traum in Erfüllung, das letzte Tabu des NS-Unrechts verschwindet", sagt Baumann. Er ist der einzige Überlebende jener 36 Initiatoren, die 1990 die Bundesvereinigung gründeten. Rund 30.000 Deserteure, Verweigerer und "Kriegsverräter" wurden von der NS-Militärjustiz zum Tode verurteilt, etwa 20.000 hingerichtet. "Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben", lautete Hitlers Weisung.

Mit anderen Soldaten desertierte Baumann 1942 als Marine-Gefreiter in Bordeaux. Er wurde gefasst, gefoltert, verurteilt und verbrachte zehn Monate in der Todeszelle. Dann wurde sein Urteil in zwölf Jahre Zuchthaus umgewandelt. Er kam ins Konzentrationslager, ins Wehrmachtsgefängnis Torgau und ins Strafbataillon - und überlebte. Sein Freund Kurt Oldenburg starb. "Auch im Nachkriegsdeutschland wurden wir als Feiglinge, Drecksäcke und Vaterlandsverräter beschimpft", erinnert sich Baumann. Durch seinen Einsatz erfuhr die Öffentlichkeit mehr über die Menschen, die sich der Wehrmacht entzogen. Langsam änderte sich das Meinungsbild.

Dann hob der Bundestag 1998 alle Unrechtsurteile der NS-Militärjustiz auf. 2002 beschloss das Parlament auch die pauschale Rehabilitierung von Deserteuren - Anlass zur Hoffnung für Baumann. Doch für Urteile nach dem "Kriegsverrats"-Paragrafen gilt nach wie vor die Einzelfallprüfung, die aber faktisch nicht mehr möglich ist. "Wer im Felde einen Landesverrat begeht, wird wegen Kriegsverrat mit dem Tode bestraft", heißt es ebenso kurz wie schwammig im Reichsgesetzblatt aus dem Jahr 1937.

Betroffen sind Soldaten, die Juden warnten, der Zivilbevölkerung halfen oder als Partisanen gegen Hitler kämpften. "Was kann man Besseres tun, als den Krieg zu verraten?", fragt Baumann, der sich treu geblieben ist. In der Friedensbewegung setzt er sich bis heute dafür ein, "dass wir Menschen uns nicht gegenseitig umbringen". Dafür reist der zerbrechlich wirkende, zierliche Mann mit der festen Überzeugung kreuz und quer durch Deutschland. Als Zeitzeuge erzählt er in Schulen von seinem und anderen Schicksalen.

Baumann spricht von 68 Todesurteilen wegen "Kriegsverrats", die bis auf eines vollstreckt wurden. Nur Wehrmachtsgeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach (1888-1976) überlebte, weil er in russischer Kriegsgefangenschaft saß und in Abwesenheit verurteilt wurde. Das Landgericht in Verden bei Bremen hob 1956 nach einer Einzelfallprüfung das Todesurteil gegen ihn rückwirkend auf. Zwar sind alle Betroffenen nun tot - die pauschale Rehabilitierung am Dienstag ist für Baumann aber ein wichtiges politisches Signal: "Alles andere würde bedeuten, dass wir uns nicht genügend von der NS-Vergangenheit distanzieren."

Allerdings gab es im Parlament Hickhack um den Gesetzentwurf, den die ungeliebte Linke initiiert hatte. Nun liegt zudem ein gleichlautendes Papier aller anderen Fraktionen vor, das die Linke nach einer Intervention der Union nicht mit einbringen darf. "Demütigendes Parteiengezänk", sagt Baumann. "Da geht es nicht um die Opfer." Entmutigt hat ihn das nicht. Er kämpft weiter für die Erinnerung und war auch in Köln, als dort vergangene Woche ein Denkmal für die Deserteure eingeweiht wurde. Am Dienstag ist er in Berlin, das ist ihm wichtig. Die uneingeschränkte Rehabilitierung ist zum Greifen nah: "Wir haben unser Ziel erreicht." (epd)

Aktuell:

Bundestag hebt alle "Kriegsverräter"-Urteile der NS-Justiz auf

Berlin (epd). Der Bundestag hat am Dienstag in Berlin alle Urteile der NS-Militärjustiz gegen sogenannte Kriegsverräter aufgehoben. Die Linksfraktion, die die Initiatorin der Rehabilitierung der "Kriegsverräter" war, unterstützte auf Drängen der Union nicht den gemeinsamen Gesetzentwurf aller anderen Fraktionen, sondern stimmte für einen wortgleichen eigenen Entwurf.

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) erklärte, mit der Rehabilitierung werde die Ehre einer lange vergessenen Gruppe von Opfern der NS-Justiz wiederhergestellt: "Wir erkennen damit den Widerstand der einfachen Soldaten an, denn sie waren am häufigsten Opfer dieser Vorschrift." Der FDP-Innenexperte Max Stadler sprach von einem wichtigen Zeichen.

Der Straftatbestand des Kriegsverrats war unter der NS-Herrschaft verschärft worden. Der Paragraf 57 des einstigen Militärstrafgesetzbuchs wurde zu einem Willkürinstrument, um politisch missliebiges Verhalten mit dem Tode zu bestrafen. Unter Kriegsverrat fielen beispielsweise Kontakte von Soldaten zu Kriegsgefangenen, Hilfen für Juden, Schwarzmarkthandel oder kritische Äußerungen über den Krieg. Verurteilt wurden zumeist einfache Soldaten, höhere Dienstgrade blieben verschont.

Der Bundestag hatte 1998 alle Unrechtsurteile der NS-Militärjustiz aufgehoben. 2002 beschloss das Parlament auch die pauschale Rehabilitierung von Deserteuren. Nur für Urteile nach dem Kriegsverrats-Paragrafen galt noch die Einzelfallprüfung. Faktisch war sie aber nicht mehr möglich. Nach Angaben der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz wurden rund 30.000 Deserteure, Verweigerer und "Kriegsverräter" durch NS-Richter zum Tode verurteilt. Etwa 20.000 wurden hingerichtet.

Mit der Rehabilitation der "Kriegsverräter" als letzter Opfer-Gruppe beschäftigte sich das Parlament schließlich in einer Anhörung 2008. SPD und Union konnten sich aber nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen. Grüne, Linke, ein Teil der SPD-Abgeordneten sowie einzelne Parlamentarier von Union und FDP brachten daraufhin den Gruppenantrag ein, der nun in der letzten Sitzung des Bundestags vor der Wahl am 27. September mit den Stimmen aller Fraktionen verabschiedet wurde.

Nach Angaben des Justizministeriums stellen die Staatsanwaltschaften eine Bescheinigung darüber aus, dass ein NS-Kriegsverratsurteil aufgehoben ist. Zuständig ist die Staatsanwaltschaft an dem Ort, an dem auch die Verurteilung erfolgte. Liegt der Ort im Ausland, ist der Wohnsitz des Betroffenen maßgeblich. Da es keine Überlebenden der Kriegsverräter-Urteile mehr gibt, können Verwandte den Antrag stellen, um einen Verurteilten posthum zu rehabilitieren.

09. September 2009