Multikulturalität als gesellschaftliches Leitbild

Alexander Mielke ist seit zwei Jahren Pfarrer der Martin-Luther-Gemeinde in Toronto

03. Juli 2009


Schon lange hatte ich mich auf den Osterfrühgottesdienst gefreut. In unserer Gemeinde feiern wir ihn nicht in der Kirche, sondern draußen, am Ufer des Ontariosees. Er ist der kleinste der fünf großen Seen zwischen Kanada und den USA, aber trotzdem etwa so groß wie Rheinland-Pfalz.

Wir begannen um Viertel vor sechs. Auch in diesem Jahr kamen etwa 50 Gemeindeglieder. Zum Glück hatten wir gemütliche Temperaturen um den Gefrierpunkt - im Jahr zuvor zitterten und froren wir in der Osternacht bei minus 30 Grad in unseren Wintermänteln. In der Dunkelheit hielten wir diesmal wieder Kerzen in der Hand, sangen Taizé-Lieder, und dann führten uns Jugendliche mit einem Anspiel an mehreren Stationen durch die ­Geschichte aus Johannes 21. Sie spielten das Ostererlebnis nach, bei dem die Jünger 153 Fische fingen. Das passte zur morgendlichen Kulisse. Gegen 6.40 Uhr ging die Sonne über der Skyline Torontos mit dem markanten 553 Meter hohen CN-Tower auf.

Seit August 2007 bin ich Pfarrer in der Martin-Luther-Kirche. Die Kirche liegt im Südwesten der Fünfmillionenstadt, nur wenige Meter vom Lake Ontario entfernt. Es ist das zweite Mal, dass unsere Familie im Ausland lebt. Als unsere vier Kinder klein ­waren, lebten wir in Ostafrika, wo ich von 1993 bis 1999 in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tansania arbeitete, 100 Kilometer südlich vom Kilimandscharo bei christlichen Massai­. Später waren meine Frau Heike und ich als Pfarrerehepaar im Kirchenkreis Augsburg tätig. Zu unserem bewegten Leben passt ein Bibelvers von unserer gemeinsamen Ordination: "Ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden" (Jesaja 55,12).

Als unsere Kinder in die Pubertät kamen oder schon drin ­waren, sollte es nun also in Richtung Kanada gehen. Für uns alle keine einfache Entscheidung. So war in der Ausschreibung keine Stellenteilung vorgesehen. Meine Frau akzeptierte es, künftig mehr für unsere Kinder da zu sein - die bei all dem Neuen ja auch eine intensive Begleitung brauchen. Trotzdem ist es ihr weiterhin wichtig, in der Gemeinde mitzuarbeiten.

Auch unseren Kinder fiel die Entscheidung für Kanada schwer. Klar, sie hatten Angst, Freunde zu verlieren. Inzwischen sind sie in E-Mail, Facebook und Skype versiert und halten so Kontakt. Sorgen machten sie sich auch wegen des Schulwechsels. Aber es stellte sich heraus, dass das kanadische Schulsystem hervorragend auf die Integration von Neuankömmlingen eingestellt ist. Hier werden regulär "English as a Second Language"-Kurse angeboten, Englisch als Zweitsprache. Und in den höheren Klassen können sich Neuankömmling leichter in den Unterrichtsstoff hineinfinden, weil die Schulen auf wenige Hauptfächer fokussieren. Leider ist es nicht einfach, außerhalb der Schulzeit Freundschaften zu pflegen. Dafür bleibt wenig Zeit. Entweder wachen die Eltern ehrgeizig über die schulische Weiterarbeit ihrer Kinder, oder die Freunde sind - wie unsere Kinder - mit Sport- und Musikaktivitäten ausgebucht.

In unserer jetzigen Gemeinde sind wir nicht die Einzigen, die viel in der Welt herumgekommen sind. Ohio, Mexiko, Calgary, München oder Leipzig, davon erzählten neulich viele meiner neuen Konfirmanden. Für ältere Gemeindeglieder waren die Ortswechsel früher oft eher dramatisch. Vor einiger Zeit haben wir Ella Morgan-Schwantes beerdigt, die Frau des schon vor einigen Jahren verstorbenen Pastors Eberhard Schwantes, der hier über 35 Jahre Dienst getan hatte. Im Herbst 1945, im Flüchtlingslager in Ostdeutschland, war ihr klar geworden, dass sie nicht in ihre litauische Heimat zurückkehren konnte. Da entschloss sich die damals 17-Jährige, ohne Familie Richtung Westen zu fliehen. Dort traf sie, wieder allein, die Entscheidung, nach Kanada auszu­wandern. Einige Jahre später holte sie ihre Familie nach. In der Martin-Luther-Kirche fand sie schließlich eine neue Heimat.

Die Martin-Luther-Kirche ist am ersten Advent 1955 als deutschsprachige Einwanderergemeinde gegründet worden. Heutzutage leben über 200#000 Deutschstämmige in der Metropolregion "Greater Toronto", darunter nicht wenige Mitarbeiter von ausländischen Unternehmen mit ihren Familien.

Es gibt in Kanada drei große Konfessionen: die römisch-­katholische, die anglikanische und die United Church of Christ - ein Zusammenschluss von Presbyterianern und Methodisten. Ständig gründen sich neue, oft evangelistische und pfingstliche Gemeinden. Sie umwerben auch Mitglieder bereits bestehender Gemeinden.

In diesem Wettbewerb haben ethnische Gemeinden wie unsere Martin-Luther-Kirche zum Glück einen kleinen Vorteil durch ihren Nischencharakter. Sie ist zwar nur eine von vielen ursprünglich deutschen Gemeinden. Aber unsere gut 450 Mitglieder halten in der Regel treu zu uns, auch wenn sich ihre Familien über die Jahrzehnte auf Greater Toronto und die Nachbarstädte verstreut haben. Mancher nimmt inzwischen einen Anfahrtsweg von 50 und mehr Kilometern zum Gottesdienst in Kauf. Vielen unserer Gemeindeglieder ist es wichtig, dass sie mit uns in der deutschen Sprache sprechen, andere können gar kein Deutsch - so wird hier seit 40 Jahren jeden Sonntag neben dem deutschen auch ein englischer Gottesdienst gefeiert. Seit einigen Jahren sprechen wir im Kirchenvorstand und bei der Jahresversammlung englisch. Angesichts zweier so unterschiedlich orientierter Gemeindeteile ist es nicht immer einfach, gemeinsame Entscheidungen zu treffen.

Kanada ist eine junge Nation und weiterhin ein klassisches Einwanderungsland. Es hat sich aus der mütterlichen Umklammerung Großbritanniens in der Folge des Zweiten Weltkriegs stärker gelöst. Die eigene Nationalflagge mit dem sympathischen roten Ahornblatt wurde 1965 eingeführt. Seit den Siebzigerjahren gilt Multikulturalität als gesellschaftliches Leitbild. Sie macht den freundlichen und offenen Grundcharakter des Landes aus, den wir sehr genießen. Es gibt auch eine deutsche Morgenandacht im regionalen Radioprogramm, die ich jeden Sonntag halte.

Multikulturalität kann auch zu schwierigen Situationen führen. Da posiert ein junger Sikh-Mann in einem Hochglanzfoto stolz mit seinem Turban auf einem Motorrad. Er kann sich der Unterstützung der ganzen Sikh-Gemeinschaft sicher sein, wenn er vor der Menschenrechtskommission von Ontario gegen die Straßenverkehrsordnung klagt, die das Tragen von Motorradhelmen vorschreibt. Auch so etwas kommt vor: Kurz vor Veröffentlichung eines Berichts zum besseren Zusammenleben der Religionen und Kulturen fasst das Parlament von Quebec den Eilbeschluss, dass das Kruzifix über dem Sitz des Präsidenten auf jeden Fall hängen bleibt.

Seit Jahrzehnten unterhält unsere Gemeinde eine Kindertagesstätte. Viele der mehr als 70 Kinder im Alter zwischen anderthalb und zwölf Jahren sind muslimisch, hinduistisch oder buddhistisch. Die beiden wichtigsten Sprachen unter unseren Mitarbeiterinnen sind Hindi und Albanisch. Die Kindertagesstätte hat strikt religiös neutral zu arbeiten, so verlangt es das Gesetz. Wenn ich einmal im Monat eine biblische Geschichte erzähle, brauchen die Kinder eine explizite Erlaubnis der Eltern, bevor wir sie zur Kirche hochführen.

Derzeit bereiten wir unser großes Sommercamp vor. Ende Juli werden wir Richtung Norden fahren zum Golden Lake. Eines unserer Fahrzeuge ist ein leuchtend gelber, robuster Schulbus, wie man ihn aus Hollywoodfilmen kennt. Mit mehreren Familien, vielen Kindern und Jugendlichen, insgesamt 80 Menschen, ­werden wir sechs Tage fernab der Großstadt Toronto unterwegs sein. Es gibt Kanutouren und Wildwasserabenteuer auf dem ­Ottawa-Strom - Kanada, wie man es sich vorstellt.