Kaum brauchbar für sozialistische Propaganda

Das Tagebuch der Anne Frank wurde in der DDR zwiespältig aufgenommen

11. Juni 2009


Der Vorfall empörte vor drei Jahren die ganze Republik: Im sachsen-anhaltischen Dorf Pretzien verbrannten Jugendliche bei einem Dorffest das "Tagebuch der Anne Frank" - und die herbeigerufenen Polizisten stellten lediglich eine Sachbeschädigung fest. Das Buch und seine Bedeutung hätten sie nicht gekannt, rechtfertigten sich die Beamten später.

Die Kulturwissenschaftlerin Sylke Kirschnick ist dieser Behauptung nachgegangen: Hätten in der DDR aufgewachsene Polizisten das in 35 Sprachen übersetzte und mehr als 30 Millionen Mal verkaufte Tagebuch eines jüdischen Mädchens in der NS-Zeit kennen müssen?

Nachdem ihre Forschungsergebnisse bereits in einer Ausstellung dokumentiert wurden, liegen sie zum 80. Geburtstag von Anne Frank am 12. Juni nun auch in Buchform vor. Unter dem Titel "Anne Frank und die DDR" fächert Kirschnick politische Deutungen, persönliche Lesarten und die "Brüche" in der Rezeption des berühmten Tagebuchs auf.

1929 als Tochter eines jüdischen Unternehmers in Frankfurt am Main geboren, floh das Mädchen mit seiner Familie vor der Verfolgung des NS-Regimes nach Amsterdam, wo sie mit zwei anderen Familien untertauchte. Zwei Jahre lang lebten die Menschen versteckt in einem Hinterhaus, bis sie 1944 entdeckt und nach Bergen-Belsen deportiert wurden. Anne Frank starb dort im März 1945 kurz vor Kriegsende an Typhus.

Während der Zeit im Versteck führte sie Tagebücher, die ihr Vater Otto als einziger Überlebender der Familie nach ihrem Tod publizierte. Sie gelten als sehr persönliches Zeugnis des Holocaust, aber auch als scharfsichtige Beobachtung zwischenmenschlicher Beziehungen in Extremsituationen.

Damit passte Anne Frank kaum in das Bild des antifaschistischen Widerstandskampfes, auf das die DDR gründete. "Diejenigen Opfer des Nationalsozialismus, die aus Sicht der meinungsführenden SED-Funktionäre ihre Verfolgung nur passiv erduldet, aber nicht aktiv bekämpft hatten, verschwanden aus dem öffentlichen Bewusstsein Ostdeutschlands", schreibt Kirschnick.

So wurde die Judenverfolgung in der DDR kaum thematisiert, Faschismus und Antisemitismus "einseitig auf die Bundesrepublik projiziert." Das Tagebuch Anne Franks wurde als Zeugnis eines ermordeten Kindes gegen den Faschismus wahrgenommen und sie selbst zur schablonenhaften Botschafterin für Frieden und Völkerfreundschaft. Dass sie jüdischer Herkunft war und deshalb um ihr Überleben bangen musste, fand kaum Erwähnung. Wirkliche Informationen über ihre Person und ihr Leben waren rar.

Als etwa um 1960 Schulen, Kitas und Brigaden nach Anne Frank benannt wurden, beauftragte man die Kinder mit Recherchen. Die Nachforschungen der Schüler der Anne-Frank-Schule im thüringischen Themar endeten schließlich mit der lapidaren Feststellung, dass die im Alter von 15 Jahren gestorbene Frank "im engeren Sinne nicht aktiv am antifaschistischen Widerstandskampf teilgenommen hat", wie Kirschnick aus den Archiven zitiert.

Ungeachtet dessen verwendeten Zeitungsartikel und ein DEFA-Film das Tagebuch für Kampagnen, die sich gegen in Westdeutschland lebende Alt-Nazis richteten. Auch in Themar bezeichneten die Lehrer ihre Initiative zur Namensgebung der Schule offiziell als "Antwort auf die von Westdeutschland ausgehende antisemitische Hetzwelle". In den Jahren nach dem Sechstagekrieg von 1967, als Israel offiziell als Feind galt, wurde das Tagebuch dann allerdings totgeschwiegen und mehr als zehn Jahre lang nicht mehr verlegt.

Doch offizielle Verlautbarungen waren in der DDR nicht immer identisch mit dem, was die Menschen wirklich dachten. Trotz der Bücherknappheit kannten viele Jugendliche Anne Franks Geschichte, etwa aus Theaterinszenierungen.

Auch in Themar gab es offenbar Lehrerinnen, die ungeachtet aller staatlichen Propaganda ihrer Schule den Namen Anne Frank geben wollten, um damit die Bewohner der Kleinstadt mit der verdrängten Erinnerung an die Pogrome im eigenen Ort zu konfrontieren. So ist auch Kirschnicks Fazit am Ende eindeutig. Hätten die Polizisten aus Pretzien das Buch kennen müssen? "Müssen gewiss nicht", schreibt die Potsdamer Germanistikdozentin. "Aber kennen können hätten sie es durchaus." (epd)


Sylke Kirschnick : "Anne Frank und die DDR", Ch. Links Verlag, 2009, 24,90 Euro

Eberhard Rebling (Musikwissenschaftler) über Anne Frank in der DDR