„Ich wollte gleich wieder umkehren“

Sabine Ohnemüller ist Pastorin in Doha, Katar

08. Juni 2009


Doha war nicht unser Wunschziel. In den Informationen des Auswärtigen Amtes las ich: "Katar, ein Land halb so groß wie Hessen, überwiegend vegetationsarme Geröllwüste." Das ließ nicht viel Gutes ahnen. Das Auswärtige Amt hatte meinen Mann nach Katar versetzt. Er arbeitet nun an der deutschen Botschaft dort.

Als ich im August 2007 aus dem Flugzeug stieg, wollte ich gleich wieder umkehren. Die Luft war heiß und feucht wie in ­einer Sauna. Unsere Kinder waren damals zweieinhalb Jahre und ein halbes Jahr alt. Temperaturen bis zu 50 Grad, Luftfeuchtigkeit bis an die 80 Prozent. Man findet kaum Luft zu atmen und flüchtet sich in klimatisierte Räume, also in die eigenen vier Wände oder die Shoppingmalls. Die Natur erlaubt gerade einmal zum Sonnenuntergang, sich nach draußen zu wagen. Wohin mit den Kindern, die gewohnt sind, im Garten zu spielen?

Ähnliche Fragen stellen sich zunächst alle Auswärtigen, die hier mit Familien leben wollen oder müssen. Und das sind mehr als 80 Prozent der Bevölkerung. Katarer sind in Katar in der ­Minderheit. Viele Gastarbeiter stammen aus Indien, Nepal und den Philippinen, andere aus Amerika, Australien, Südafrika und Europa, darunter mittlerweile ungefähr 1000 aus Deutschland. Deutsche Baufirmen haben hier gute Aufträge, eine baut an der Freundschaftsbrücke nach Bahrain mit. Firmenmitarbeiter und ihre Familien bleiben meist zwei bis drei Jahre. Seit Herbst 2008 gibt es eine deutsche Schule in Doha.

Neuankömmlinge müssen viele Probleme meistern: die Schulplatzsuche, horrende Schulgebühren und schreckliche Verkehrsverhältnisse, die das Kind-zur-Schule-Bringen zum tagesfüllenden Programm machen. Wir müssen "viel Sand schlucken für das gute Geld", sagt man hier auch.

Sind die Anfangsschwierigkeiten gemeistert, genießt man die Möglichkeiten eines in vieler Hinsicht bequemen Lebens. Fast jeder hat Hausangestellte. Es gibt alles zu kaufen, mit Sonderausweis auch Alkohol, der in muslimischen Ländern nicht gern gesehen ist. Die meisten Deutschen haben daheim eine feste Bleibe zum "Übersommern". Und da dort die wirtschaftliche Lage nicht rosig ist, überlegen manche, ihre Verträge zu verlängern.

Beim monatlichen deutschen Coffee-Morning im Riz Carlton, einem Tophotel am Meer im völlig neu gebauten Stadtteil West Bay, sind das Wetter und der Verkehr in Doha jedes Mal das Wichtigste. Einhellige Meinung zum Klima: Von Mai bis September wäre man am liebsten in Europa. Doch von Oktober bis April lässt es sich bei 25 Grad relativ gut leben. Eine Deutsche nannte diese Zeit "another week in paradise". Für mich trifft diese Wendung eher auf die wenigen Glücksmomente eines lauen Abends Ende Oktober zu. Oder wenn man gemütlich in einem Café im Souq Waqif sitzt - ohne den tosenden Autolärm ringsherum.

Hat man sich erst einmal eingerichtet, ist es spannend, in einer Baustellenstadt zu leben. Alles wächst, alles ist auf Fortschritt ausgerichtet. Die Golfstaaten boomen. Und Katar ist mit seinem großen Erdgasvorkommen eines der reichsten Länder weltweit. Das Umland von Doha ist Wüste. Und in der kühlen Jahreszeit kann man schöne Wüstentouren unternehmen. Zum Inlandsee zum Beispiel, einem Meeresarm, der weit in die Wüste ragt. Man fährt mit Vierradantrieb über die Sanddünen und badet im Meer. Auch Übernachtungen in der Wüste zählen zu den Highlights. Für längere Urlaubsreisen bietet sich etwa Oman an mit Bergen, grünen Palmenhainen und alten Burgen. Wer keine Kinder hat, fliegt auch gerne mal zum Kurztrip nach Indien, auf die Male­diven oder nach Sri Lanka.

Ich hatte ursprünglich geplant, Elternzeit zu nehmen und ­meinen Dienst als Pfarrerin ein paar Jahre ruhen zu lassen. Nicht im Traum dachte ich daran, schon wieder in den Beruf einzu­steigen. Doch auch die evangelische Kirche ist hier im rasanten Aufbau. Früher versorgte der Pfarrer in Teheran die Golfgemeinden im Reisedienst. Nun sollen zwei hauptamtliche Pfarrer und ehrenamtliche Ortskräfte alle Golfstaaten einschließlich Bahrain, Kuwait und Saudi-Arabien betreuen. Sie sollen über ihre Gemeindegrenzen hinweg kooperieren, etwa bei der Konfirmandenarbeit. In Katar hatte schon vor mir eine Pfarrerin ehrenamtlich begonnen. Sie verließ Doha im Sommer 2007. Plötzlich war ich gefragt. Seit Herbst 2008 ist eine offizielle Pfarrstelle in Dubai dazugekommen, die auch Abu Dhabi versorgt.

Unsere evangelische Gemeinde ist selbstverständlich offen für Christen aller Konfessionen. Für den monatlichen Eltern-Kind-Treff nehmen wir das Clubhaus in einem der Wohngelände für Expatriates, also für uns Ausländer, in Anspruch. Ansonsten verlagern wir Gottesdienste und Gemeindeabende mangels anderer Räumlichkeiten in unser Haus. Es ist groß und hat eine - für deutsche Maßstäbe - riesige Eingangsdiele. Dennoch ließen die Rückmeldungen zum Weihnachtsgottesdienst mit Krippenspiel und Klavier-, Geigen- und Fagottmusik im Dezember 2008 ahnen, dass unsere Sitzgelegenheiten knapp würden. An Heiligabend brachten dann viele ihren Klappstuhl mit, die Kinder saßen vorne auf dem Teppich, hinten mussten die Leute stehen. Es war ein schöner Gottesdienst, eben wie Heiligabend in Deutschland in einer vollen Kirche mit vielen Kinderstimmen dazwischen. Danach standen oder saßen wir gemütlich beisammen bei Plätzchen und Glühwein, und einer meinte: "Es ist ein bisschen wie in der Urchristenheit, als man sich auch in privaten Häusern traf und nicht in großen anonymen Kirchen."

Das, was man heute von Doha sieht, gibt es eigentlich erst seit 60 Jahren, als - noch unter britischem Protektorat - die Ölexporte begannen. In einem Land, in dem so wenig Geschichte fühlbar ist und so viel vorwärtsdrängende Energie, erscheint mir Traditionspflege geradezu lebensnotwendig. Viele Deutsche finden hier noch einmal einen neuen Zugang zur Kirche, gerade Ehepaare um die 40 mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter.

In der Kirchengemeinde halten wir uns mit unseren Kindern an den Turnus des Jahreskreises, wie wir ihn von zu Hause ­kennen. Wir basteln Laternen im November, feiern Nikolaus, Weihnachten, Fasching und bemalen Ostereier. Für die Mütter sind solche Treffen natürlich auch eine Gelegenheit, sich mal ­wieder zu unterhalten. Wir singen und beten, basteln und spielen miteinander. Im Dezember kam der Nikolaus in die neu eröffnete deutsche Schule und brachte jedem Kind ein kleines Säckchen.

Bei Gemeindeabenden in unserem Haus gibt es einen Diavortrag oder eine Diskussion. Deutsche Musiker aus dem neu gegründeten Symphonieorchester Katar bescherten uns einmal ­einen Abend mit klassischer Musik. Am Schluss steht der Abendsegen, dann singen wir "Der Mond ist aufgegangen". Letztens sagte jemand: "Dieses Lied tut gut nach einem so staubigen und vollen Tag. Ich komme zur Ruhe und zu mir selbst."

Nach dem Ostergottesdienst im April suchten die Kinder in unserem Garten Ostereier, natürlich keine Schokoeier - wegen der Hitze. Im Gottesdienst haben wir erstmals überhaupt in Doha konfirmiert - ein 14-jähriges Mädchen. Ihr Vater arbeitet bei einer Baufirma. Sie lebt mit ihrer Familie erst seit dem Herbst hier, in einem abgeschlossenen Wohngebiet (einem "Compound"). Dort hat sie auch Freundinnen gefunden. Für den Sommer freut sie sich auf ihr Zuhause in Deutschland, wird sie doch auch bald Tante. Und dann will sie Patin werden.

Offenbar hat auch die Jugendliche, als sie ihren Konfirmationsspruch auswählte, einen Kontrapunkt zum rasanten Leben hier in dieser boomenden Stadt gesucht. Ihr Spruch stammt aus dem Hebräerbrief 13,8 und lautet: "Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit".