Am geografischen Mittelpunkt Europas

Martin Grahl ist Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Riga/Lettland.

04. Mai 2009


Ein Blick aus unserem Wohnzimmerfenster hinunter auf eine der  Hauptverkehrsstraßen von Riga. Spätnachmittags zeigt sich stets dasselbe Bild: Verkehrsstau. Dicke Autos sind zu sehen, Porsche, Hummer, viele große Volvos. Auf den Gehwegen erkennt man schlanke Frauen auf High Heels, teuer gekleidete Kinder und ­Geschäftsmänner in dunklen Anzügen. Nach Jahrzehnten der Misswirtschaft greift Wohlstand sichtbar um sich. Luxuriöse Einkaufszentren gibt es in der Stadt, vor denen an manchen Tagen kaum noch ein freier Parkplatz zu finden ist. Lettland  ist in der Europäischen Union angekommen.

Es ist ein Land voller Widersprüche, die sich auch quer durch unsere Kirchengemeinde ziehen. Hier bin ich Pfarrer, seit sechs Jahren und für weitere drei Jahre. Vor ein paar Jahren besuchten meine Frau und ich eine unserer Familien. In einem Zimmer hauste ein Paar mit sieben Kindern, neun Menschen in zwei ­Betten. Der Vermieter hatte, wohl auch wegen dieser Intensivnutzung, einen Räumungsbeschluss erwirkt. Um ein Haar hätte das Jugendamt den Eltern die Kinder fortgenommen, weil sie nicht angemessen für sie zu sorgen schienen. Doch wohin sollte die Familie? Mit Hilfe eines Kinderrechtszentrums und durch die Fürsprache eines Abgeordneten konnten wir erreichen, dass die Familie ein Jahr später in eine der wenigen Sozialwohnungen einzog. Eines ihrer Probleme: Sie haben deutsche Vorfahren. Russlanddeutsche gelten hierzulande als Russen, was bedeutet, dass sich viele Letten von ihnen abwenden. Damit berühren wir eines der Probleme, mit denen eine deutsche Gemeinde in Lettland zu tun hat.

Letten mit deutscher Abstammung, "Deutschbalten", haben jahrzehntelang ihre deutsche Herkunft nicht herausgekehrt. Einige haben in sowjetischer Zeit sogar ihre Namen und Geburtsdaten gefälscht, um nicht als Faschisten abgestempelt und sozial und wirtschaftlich ausgegrenzt zu werden. Es gibt Wohlstand unter unseren Gemeindegliedern, aber auch bittere Armut.

Wer diese Kultur und Gesellschaft verstehen will, muss weit zurückblicken: Schwedische, deutsche, russische, polnische, aber auch jüdische Geschichte haben dieses Land geprägt. Und inmitten von allem das lettische Volk. Nur wenige andere Länder haben in den letzten hundert Jahren im Verhältnis zur Einwohnerzahl eine so starke Migration erlebt und dazu Vertreibung, Aussiedlung, Exil und Vernichtung. Jetzt besteht gerade mal gut die Hälfte der Bevölkerung aus Letten. Die anderen Gruppen sind zumeist russischsprachig. Mit den Esten nördlich des Landes hat man ­wenig zu tun - man versteht einander überhaupt nicht. Die ­Litauer südlich von Lettland haben zwar eine verwandte Sprache, aber auch das reicht nicht, um miteinander reden zu können. Und warum sollte man die Sprache der anderen kleinen Nachbarstaaten ­lernen? Englisch ist viel wichtiger - oder zum Beispiel auch Deutsch, denn Deutschland ist ein wichtiger Wirtschaftspartner. Wie Russland auch. Doch zu beiden Nationen haben die Letten ein sehr belastetes Verhältnis.

Lettland hat ein Integrationsproblem. Politik und Gesellschaft tun sich schwer, die in sowjetischer Zeit Eingewanderten aus dem Osten als Staatsbürger anzunehmen. So sind fast 400.000 Einwohner, 16 Prozent der Bevölkerung, staatenlos, sogenannte Nichtbürger, "Aliens", wie das Gesetz sagt. So viele gibt es in ­keinem anderen europäischen Land. Diese Nichtbürger müssen rechtliche Einschränkungen in Kauf nehmen, zum Beispiel im Wahlrecht. Ganz anders geht es den im Kommunismus einst gut Angepassten. Viele von ihnen finden sich heute politisch auf dem rechten, nationalistischen Flügel ein.

Integration in unserem Verständnis bedeutet, aufeinander zuzugehen und eine gemeinsame Zukunft zu suchen. Doch in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise blühen alte Feindbilder wieder auf. Negative Erinnerungen versehen viele Letten mit dem Etikett "russisch", die neuen Probleme mit "Westen". Als Bundesdeutsche sind wir Ausländer, gehören also zu der kleinen Schicht, die mehr oder weniger aus der Distanz schaut, was hier so geschieht. Aber als Pfarrfamilie sind wir mittendrin. Was uns zusammenführt, sind die Gottesdienste in Riga, Liepaja, Daugavpils, Valmiera und Dobele. Wir üben uns in den vier üblichen Sprachen: Deutsch, Lettisch, Englisch und Russisch, je nachdem, mit wem wir es wo und wann zu tun haben. Für die meisten unserer Gemeindeglieder ist das normal: binationale Ehen, gemischte nationale Herkunft, gesellschaftlich exponierte Positionen. Die Kinder wachsen zwei- oder mehrsprachig auf.

Integration? Ja, aber wie? Da ist eine Familie aus unserer Gemeinde in Daugavpils. In dieser großen Stadt mit 100 000 Einwohnern sind Letten in der Minderheit. Wie soll man sich da unsere Integration als Minderheit in den lettischen Staat vorstellen? Die Eltern in dieser Familie sprechen kein Lettisch. Die Kinder haben diese Sprache zwar in der Schule gelernt, aber in ihrem Umfeld sprechen alle Russisch. Irgendwie können auch die hier geborenen Jugendlichen nicht glauben, dass sie Ausländer sein sollen. In ihrer Verwandtschaft gibt es sie alle: Russlanddeutsche, Polen, Litauer, Letten und auch einen "echten" Russen, nämlich den orthodox altgläubigen Großvater. Die jungen Leute aus unserer Gemeinde in Daugavpils, am Ostrand dieser kleinen Republik, reden viel darüber, wer und wo sie eigentlich sind - integriert, ausgegrenzt, Russen, EU-Bürger?

Einmal musste unser Sohn ins Krankenhaus. Für uns ist das finanziell kein Problem, denn wir sind im Unterschied zu den meisten hier gut krankenversichert. Wir zahlen gern die Gebühren, die oft deutlich höher liegen als für Letten. Dafür brauchen wir für Schwestern und Ärzte auch keine "Trinkgelder" zu zahlen. Ich habe bei meinen Seelsorgebesuchen sehr unterschiedliche Krankenhausstationen gesehen, darunter saubere und ordentliche, frisch renovierte und von guten Ärzten geführte. Aber ich erinnere mich auch an den Besuch bei 50 Kindern des Sozialhauses in Daugavpils. Die Gemeinschaftstoiletten spotteten jeder Beschreibung. Es gab nur einen gemeinsamen Duschraum. Wir erlebten kein Sozial-, sondern ein Armenhaus, einen riesigen ­Plattenbau mit Behinderten auf den höheren Etagen, und zwar ohne Fahrstuhl, sowie mit einer vergitterten, von Polizei be­wachten Obdachlosenabteilung im Erdgeschoss.

Die gegenwärtige Bankenkrise verschärft zusehends die ­sozialen Gegensätze im Land. Die Preise für Dinge des täglichen Bedarfs liegen oft höher als in Deutschland, aber die geringen Einkommen werden vielfach noch weiter gekürzt. Das soll den drohenden Staatsbankrott verhindern.

Was ist in einer solchen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage unsere Aufgabe als Kirche? Wir wollen Mut machen und, ohne den Blick zu verklären, Hoffnung stiften. Wir wollen helfen, die ethnischen Gräben zu überwinden. Manchmal führt schon die Erkenntnis, dass Russen und Letten die gleiche Bibel haben, einen kleinen Schritt weiter. Und dann: Die große Mehrheit der Bevölkerung ist konfessionslos. Wie sollen die Kirchen darauf reagieren? Sonderlich liberal sind die heimischen Kirchen jedenfalls nicht. In der lutherischen Kirche Lettlands ist die Frauenordination tabu - in der katholischen sowieso. Die lutherische Kirche mit gerade mal 40#000 Mitgliedern hat drei Bischöfe, prächtiger gekleidet als alle deutschen evangelischen Bischöfe zusammen. Traditionsbewusstsein wird großgeschrieben.

Und doch: Wir haben nicht den Eindruck, uns am Rand Europas zu befinden. In der Nähe soll der geografische Mittelpunkt Europas liegen. Wir sind also mittendrin in den Veränderungen der Zeit - ein sehr angemessener Ort für Kirche.