Ein Dorf zum Aufwachsen

Vor 60 Jahren wurde das erste SOS-Kinderdorf gegründet

23. April 2009


Auf dem Spielplatz toben Kinder. Der zwölfjährige Alexander und seine Schwester Jessika, zehn Jahre alt, bringen eine Schaukel zum Schwingen. Kleinere Jungen und Mädchen schaufeln im Sand. "Mir gefällt es hier gut", sagt Alexander schlicht. Der Junge und seine Schwester kamen schon als Kleinkinder in eine Familie im SOS-Kinderdorf Lippe bei Detmold. Ab Sommer besuchen sie die Realschule. "Das schaffen nicht viele unserer Kinder", sagt die stellvertretende Leiterin des Kinderdorfes, Annette Meyer-Neumann.

Denn die meisten Kinder im Dorf stammen aus sozial benachteiligten Familien. Die Eltern waren mit der Erziehung überfordert, konnten sich nicht verantwortlich um die Kinder kümmern. Die meisten Jungen und Mädchen haben Gewalt und Missbrauch erfahren. "Bei uns sollen sie geborgen in einer Familie aufwachsen", erklärt Meyer-Neumann.

Die Idee der SOS-Kinderdörfer wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Am 25. April 1949 gründete der Österreicher Hermann Gmeiner den Verein "Societas Socialis" (soziales Gemeinwesen). Nur wenige Monate später wurde das erste SOS-Kinderdorf in Imst in Tirol gebaut. Die Initiative hat sich inzwischen über den ganzen Globus verbreitet. In 473 Kinderdörfern in 132 Ländern leben fast 60.000 Jungen und Mädchen. Hinzu kommen fast 1.500 pädagogische Einrichtungen wie Sozialzentren, Schulen und Nothilfeprogramme, in denen mehr als eine Million Kinder und Jugendliche betreut werden.

Die Organisation orientiert sich bis heute an den vier Grundpfeilern des SOS-Konzepts von Gmeiner: eine Mutter zu haben, Geschwister, ein Haus zum Leben und ein Dorf zum Aufwachsen. Anders als in der Nachkriegszeit, als es um Hilfe für Waisen ging, haben die Kinder in den 15 deutschen SOS-Dörfern heute fast alle auch leibliche Eltern.

Im Kinderdorf Lippe wohnen rund 50 Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 18 Jahren. Die älteren leben meist in Wohngruppen, die von pädagogischen Fachkräften begleitet werden. Die jüngeren Jungen und Mädchen wachsen in der Kinderdorffamilie mit Kinderdorfmutter oder -vater auf. Erzieher und Therapeuten unterstützen sie.

Hildegard Splett lebt mit "ihren" fünf Kindern in einem der Häuser: Jedes Kind hat ein Zimmer, dazu kommen Küche, Wohnzimmer, Gemeinschaftsraum. Die 51-Jährige ist seit 18 Jahren Kinderdorfmutter. "Die Beziehung zu den Kindern ist sehr intensiv, weil man sie von morgens bis abends begleitet", erzählt die gelernte Erzieherin. Alle Kinder sagen "Mama" zu ihr - "und wenn ich krank bin, bringen Sie mir auch den Tee ans Bett".

Der Job der Kinderdorfmutter verknüpft Berufs- und Privatleben und hört nie auf. "Ich bin auch für die Kinder da, wenn Sie nicht mehr hier leben", sagt Splett. Eine Kinderdorf-Mutter wird dann auch mal Großmutter. Nicht viele Menschen sind zu solchem Engagement bereit. "Es ist schwierig, qualifizierte Fachkräfte zu finden", sagt Meyer-Neumann.

Das Dorf liegt idyllisch an einem Hang. Es gibt einen Kindergarten, eine Turnhalle und einen Fußballplatz. Alexander und Jessika werden auch von ihren leiblichen Eltern besucht. Vater und Mutter wollen ihre Kinder weiter sehen, waren aber mit der Erziehung überfordert. Manchmal kommt es, berichtet Alexander, zu "komischen Situationen", wenn die leibliche Mutter und die Kinderdorfmutter zusammen da sind: "Wenn ich 'Mama' rufe, drehen sich beide um."

Das SOS-Kinderdorf bleibt die Kernidee der Initiative von Hermann Gmeiner. Aber der Verein engagiert sich längst auch intensiv in internationalen Projekten. Er hilft Aidswaisen in Afrika, Überschwemmungsopfern in Indien oder Flüchtlingen in Somalia. "Wichtig sind uns die Familienprogramme", sagt Johannes Münder, Vorstandsvorsitzender der deutschen Sektion des Hilfswerks: Arme Familien werden besonders unterstützt, damit Kinder gar nicht erst ins soziale Abseits geraten. (epd)

SOS-Kinderdörfer weltweit