Kein Osterhase – aber fliegende Glocken

Claudia Weik-Schaefer und ihr Mann sind Pfarrer an der Deutschen Christuskirche in Paris

01. April 2009


Unser erstes Osterfest in Paris rückte näher. "Kommt in Frankreich eigentlich auch der Osterhase?", fragte ich die Vorschullehrerin unseres älteren Sohnes. "Aber nein", sagte sie. "Bei uns fliegen die Kirchenglocken am Karfreitag nach Rom, ruhen sich dort aus und fliegen am Ostersonntag zurück. Auf ihrem Heimflug lassen sie Süßigkeiten für die Kinder fallen. Aber Sie verstehen, Madame, das kann ich natürlich in der Schule nicht den Kindern erzählen." Ich muss sehr verwundert geguckt haben.

"Aber Madame", setzte sie nach, "Glocken sind doch etwas Kirchliches. Sie wissen doch, die Laizität!" Ein Schulterzucken bekräftigte ihre Auskunft. Wenn hier in Paris jemand mit der Schulter zuckt, duldet er keinen Widerspruch. - Heute zucke ich übrigens auch, wenn ich keine Nachfragen mehr wünsche. Vor sieben Jahren beherrschte ich diese Technik noch nicht.

Französische Protestanten sind stolz auf die Errungenschaft der Laizität aus dem Jahre 1905: Endlich keine Einmischung der dominanten, katholischen Kirche mehr in staatliche  Angelegenheiten. Doch zuweilen bringt diese strikte Trennung von Staat und Religion auch seltsame Früchte hervor. Selbst im Freundeskreis redet man über bestimmte Themen nicht: über die eigene Religion so wenig wie über Geld und das eigene Alter. Folglich weiß man auch nichts über die Religion der anderen.

Es ist ein bisschen wie in urchristlichen Zeiten, meist fehlt es an Erkennungszeichen unter Christen und Christinnen. Im ­Sommer vor sieben Jahren saß ich auf einer Bank beim Spielplatz und las. Unsere beiden Söhne vergnügten sich im Sandkasten und auf dem Klettergerüst. Schaukeln gibt es auf Pariser Spielplätzen nicht, sondern nur in Parks gegen Eintritt, dafür aber überwacht. Hier am Spielplatz blätterte ich in der Dienstpost ­unserer Rheinischen Heimatkirche. Deren Logo ist ein stilisiertes Kreuz. Plötzlich sprach mich meine Banknachbarin an. "Sind Sie die neue Pfarrerin in der Deutschen Kirche? Ich habe das Kreuz auf Ihrem Brief gesehen. Wir gehören zu St. Trinité. Wir sind praktizierende Katholiken." So begann unsere Freundschaft.

80 Prozent der Franzosen sind formal katholisch. Unter ihnen unterscheidet man einfache von praktizierenden Katholiken. Die praktizierenden gehören einer Gemeinde an, gehen regelmäßig in den Gottesdienst und schicken ihre Kinder zur Katechese - in Frankreich vorwiegend am Mittwoch, da die meisten Grundschulkinder an dem Tag keinen Unterricht haben. Natürlich gibt es keinen Religionsunterricht an der Schule. - "Sie verstehen doch, die Laizität!"

Weil vielen Familien die religiöse Bildung und Erziehung ihrer Kinder nicht wichtig ist, geht viel kulturelles Wissen verloren. Eine einschneidende Erfahrung machte ich einmal im Urlaub. In der alten Festungsanlage Carcassonne standen wir vor einem Kruzifixus mit Maria und Johannes zu Jesu Füßen. Ein kleiner Junge fragte seinen Vater nach dessen Bedeutung. Der offensichtlich nicht praktizierende Vater antwortete: "Ach, das muss irgendetwas mit den Kreuzzügen zu tun haben!" Uns allen blieb der Mund offen stehen.

Nicht einmal zwei Prozent der Bevölkerung sind Protestanten, alle, die irgendetwas mit der Reformation zu tun haben. Die "Fédération protestante", der Bund evangelischer Kirchen in Frankreich, umfasst 23 Gliedkirchen. Wir als Pfarrer der deutschen Gemeinde haben auf allen Synoden Gastrecht. Wenn hier ein Protestant von "Ökumene" redet, meint er vor allem die innerprotestantische Zusammenarbeit. Die große Union zwischen reformierter Kirche und lutherischer Kirche Frankreichs ist für 2013 geplant.

Die katholisch-evangelische Ökumene spielt in Frankreich kaum eine Rolle. Die katholische Kirche ist viel zu groß, und wir sind viel zu unbedeutend. Das hat nicht nur Nachteile. Mit unserer katholischen Nachbargemeinde, der St. Trinité (an der ­Olivier Messiaen, der bedeutende Komponist und Organist, 60 Jahre lang tätig war), unterhalten wir sehr gute Beziehungen. Ihre Karfreitagsprozession durchs Viertel macht selbstverständlich Station vor unserer Kirche. Und man betet für uns und unsere Gemeinde. Bei ökumenischen Trauungen und Taufen genießen wir oft eine auf Nichtwissen gegründete Narrenfreiheit. Wir durften zum Beispiel schon einmal während einer Taufmesse taufen.

Das Verhältnis der deutschen evangelischen Gemeinde in ­­Paris zu den Nachbarn war immer ein Spiegel der deutsch-französischen Politik. Derzeit beneidet man uns wegen unserer Kanzlerin Angela. Der deutsch-französische Schulterschluss während des Irakkrieges brachte uns im Viertel hohes Ansehen ein. Seither hängen Restaurants und kleine Läden unsere Veranstaltungsplakate selbstverständlich in ihre Fenster. Vorher war das schwieriger oder funktionierte gar nicht.

Paris ist zwar eine riesige Metropole. Aber in meinem ­"quartier" kenne ich alle und alles. Unser Metzger kennt unsere deutschen Vorlieben. Mein Bäcker empfiehlt mir nebenbei eine gute Krankengymnastin; ihn kann ich auch nach guten Schulen fragen. In unserem Lieblingsrestaurant begrüßt uns der "patron" persönlich; er kennt unsere Lieblingsessen und noch viel mehr.

Das kleine Restaurant "Le panier volant" (der fliegende Korb)  mit der Größe eines Wohnzimmers ist mein Paradies. Ich kann es nur mit 16 andern Menschen teilen. Der Chef, ein gebürtiger Pole und Künstler von Beruf, kocht selbst - italienische und korsische Küche. Alles kommt frisch auf den Tisch, dazu gibt es süffigen roten Hauswein. Wie ein Menü hier enden soll, darüber kann man streiten. Entweder mit kleinen Törtchen, die in ihrem Innern flüssige Schokolade bergen, oder mit selbst gemachter Tarte au citron, mit einer himmlischen, wolkenähnlichen Baiserhaube.

Im kleinen Supermarkt um die Ecke halte ich ein Schwätzchen mit dem Personal. Ich weiß, welche Kunden in unser "quartier" gehören und welche nicht. In unserer 20.000 Einwohnerstadt in Deutschland kannten mich viele als Pfarrerin. Hier kennt man mich, weil ich im Quartier wohne. Erst nach etlicher Zeit haben viele realisiert, dass ich zur deutschen Kirche gehöre.

Unsere Kirche steht hier schon 115 Jahre. Man sieht sie nicht gleich. Sie hat eine mehr oder weniger typische Pariser Häuserfassade, sechs Stockwerke hoch. Wer eintritt, muss erst einen ­kleinen Korridor passieren. In der Kirche herrscht eine wundersame Stille, man ist raus aus dem Lärm. Viele Nachbarn gehen hinein, wenn sie ihren Einkauf erledigt haben. Wir tun es auch.

Manche der circa 90 Menschen, die jeden Sonntag den Weg zu uns finden, leben schon seit Jahrzehnten in Frankreich. Trotzdem bleiben sie in Frankreich immer die Deutschen, auch wenn sie akzentfrei französisch sprechen, wenn sie alle Feinheiten des französischen Lebens kennen: Wie steckt das Salatbesteck in der Salatschüssel? Trotzdem beten sie das Vaterunser und hören die Weihnachtsgeschichte lieber auf Deutsch. Für sie gehören zu ­Ostern einfach die gefärbten Eier.

Zu uns finden auch Studierende, Praktikanten und Au-pairs. In jüngster Zeit kommen auch Menschen, die ihre Identität verloren haben. Nach dem Tod ihrer französischen Eltern erfahren sie, dass sie einen deutschen Vater hatten und in Einzelfällen, dass sie adoptiert sind und deutsche Eltern hatten. Im Französischen nennt man sie heute noch "Les enfants de la honte": die Kinder der Schande. Bei uns sprechen sie sich aus oder wünschen einfach nur Hilfe bei der Suche nach ihrer wahren Identität. Gerade nach Gesprächen mit diesen Menschen stellt sich mir die Frage auch nach meiner eigenen Identität neu. Im Grunde gilt ja die christliche Identität über alle nationalen Grenzen hinweg.

Deutsche Evangelische Christuskirche Paris

Quelle: Evangelisches Monatsmagazin "chrismon"