"Itadakimasu": "Ich empfange dankend"

Elisabeth Hübler-Umemoto ist Pfarrerin der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Tokyo-Yokohama

09. März 2009


Im März blühen erste Kirschbäume rosa und weiß. Es ist Puppen-Festzeit: "Hina Matsuri". Im deutschen Kindergarten in Yokohama sind kleine Puppen festlich dekoriert: das Kaiserpaar, Hofdamen, Waffenträger, Hofmusikanten, Süßigkeiten und Laternen. In Deutschland begegnet man in dieser Jahreszeit überall dem Osterhasen, hier sind es rosa und weiße Blüten.

Es ist mein elftes Frühjahr in Japan. 1999 hatte ich meine Pfarrstelle in Deutschland aufgegeben. Mein japanischer Mann war Professor für Christentum und Interkulturelle Kommunikation in Yokohama geworden. Erst war ich mitreisende Ehefrau - in japanischer Umgebung ohne Sprachkenntnisse keine leichte Zeit. Nach vier Jahren wählte man mich auf die Pfarrstelle in Tokyo. Arbeitsschwerpunkte sind der sonntägliche Gottesdienst und der  Religionsunterricht an der Deutschen Schule. Unser 15-jähriger Sohn - vergangenes Jahr in unserer Kreuzkirche konfirmiert - geht in die japanische Schule. Uns beiden fällt es nicht immer leicht, deutsche und japanische Werte und Regeln zu versöhnen.

Samstagmorgen, neun Uhr. Endlich bin ich mal im Schwimmbad und gleite entspannt durchs Wasser. Nach der ersten Bahn und einigen Schwimmzügen schrillt eine Trillerpfeife. Der Bademeister weist auf zwei große Pfeile: auf dieser Bahn hin, auf der daneben zurück! Nach ein paar Minuten erneut ein schriller Pfiff. Alle Besucher verlassen das Becken! Jede Stunde sind Japans Schwimmbecken zehn Minuten für alle Besucher gesperrt - für den Kontrollgang des Bademeisters.

Die meisten halten die vielen Regeln und Rituale sehr genau ein. Das erleichtert das Autofahren und trägt zu einer sehr niedrigen Kriminalitätsrate bei. Aber Regeln sind nichts Starres. Die gute Beziehung zum anderen Menschen ist das A und O. Nur findet bisweilen auch das in genau geregelten Ritualen Ausdruck: Die Klassenlehrerin meines Sohnes schied drei Monate vor Ende der Grundschulzeit plötzlich aus dem Dienst, um ihre sterbende Mutter zu pflegen. Auf der Elternversammlung nahm sie Abschied. Mein Japanisch ist nicht so gut, ihre Rede kam mir endlos vor. Schließlich traten Tränen in ihre Augen - aus Mitgefühl mit den Schülern, die sie vorzeitig verlassen muss. Ein zufriedenes Aufatmen und Nicken ging durch die Reihen. Wo jemand tiefes Gefühl zeigt, ist man gerne großzügig.

Freunde aus Deutschland fragen mich oft, ob ich keine Angst vor Erdbeben, Taifunen, Erdrutschen, Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen und anderen Katastrophen habe. Doch mit den Naturgewalten - wie mit unfähigen Regierungen und der Weltwirtschaftskrise - lebt man hier gelassen. Man nimmt sein Schicksal an, wo es unvermeidlich ist. "Shoganai", sagen die Leute: "Was sich nicht ändern lässt, ertragen wir in Ruhe."

Da ist ein bis ins Detail durchorganisiertes Alltagsleben hilfreich.  Die Rolltreppe im Kaufhaus mahnt mit einer Daueransage zu vorsichtigem Gebrauch. Der Fahrkartenautomat verkündet laut: "Vergessen Sie Ihr Wechselgeld nicht!" Wenn die Bahn sich an Regentagen der Haltestelle nähert, sagt der Schaffner über Lautsprecher: "Otsukaresama deshita" - "Es tut uns leid, dass die Fahrt für Sie anstrengend war. Bitte vergessen Sie Ihren Schirm nicht." Dennoch sammeln sich an Regentagen in wenigen Stunden an einer Bahnlinie leicht 1000 vergessene Schirme an.

Man beginnt das Essen mit "Itadakimasu", auf Deutsch: "Ich empfange dankend" - und endet mit einer Floskel, die bedeutet: "Von weit her hast du auf schnellem Pferd die kostbare Speise ganz frisch hergebracht." Den Wortsinn dieser Wendungen kennen selbst Japaner nicht, eine TV-Sendung erklärt sie. Wer neu in Japan ist, den macht die allgegenwärtige Ritualisierung furchtbar ungeduldig, als Europäerin würde ich manches schneller erledigen. Auch möchte ich lieber authentisch sein, meinem Gefühl und meinem Gewissen folgen. Doch nach einiger Zeit fügt man sich. Rituale tragen schließlich zum harmonischen Miteinander bei.

Manchmal gibt es ein Regeldilemma. An der Endstation der Bahn schreit ein Kind, sein Schuh steckt zwischen Bahn und Bahnsteig. Die Mutter fordert ihr Kind auf, unauffällig zu sein. Niemand mischt sich ein. Mein Mann spricht den Schaffner an. Mit einer langen Zange holt er den Schuh heraus, wir geben ihn zurück. Die Mutter ist beschämt, wir haben sie bloßgestellt. Sie nickt uns knapp zu. Von Müttern erwartet man, dass sie dem Kind jeden Wunsch sofort erfüllen. Und man soll anderen möglichst wenig zur Last fallen. Wer etwas falsch macht, muss es in Ordnung bringen. Wie kann sie das, uns Fremden gegenüber?

Als ich einmal den Gemeindebrief von einem kleinen Postamt in der Nähe der Deutschen Schule abschicke, bekomme ich unbemerkt zu wenig Wechselgeld heraus. Zwei Stunden später spricht mich die Postbeamtin in der Schule an, entschuldigt sich mit ­vielen Verbeugungen und übergibt mir einen Umschlag mit dem fehlenden Geld. Sie hat recherchiert, wo wohl die Deutsche zu finden sei, der die Post noch Geld schuldet. Schließlich kam sie auf die Deutsche Schule, in der ich tatsächlich an diesem Tag ­Religion unterrichtete, und fuhr sofort persönlich hin - wahrscheinlich in ihrer Mittagspause.

Die Regel lautet: Gib dein Bestes und kümmere dich um alles nach Kräften - aber nur um deine Angelegenheiten.  Als vor vierzehn Jahren die Aum-Shinrikyo-Sekte einen Senfgasanschlag verübte, lagen die Opfer röchelnd auf dem Gehweg an den U-Bahn-Ausgängen. Passanten gingen scheinbar achtlos vorbei. Man alarmiert professionelle Hilfe, empfindet aber kein Recht, ungefragt ins Schicksal anderer einzugreifen. Ein Gemeindemitglied sagte später: "Diese Erfahrung brachte mich nach vielen Jahren der Abstinenz wieder zur christlichen Gemeinde. Mir wurde bewusst, welche ungeheure soziale Qualität christliche Werte wie die des barmherzigen Samariters besitzen."

Etwa 30 Millionen Menschen leben in der Kanto-Ebene, einer Fläche von der Größe Nordrhein-Westfalens, mit den Metropolen Tokyo, Yokohama, Kawasaki und angrenzenden kleineren Städten. Darunter ungefähr 3000 Deutsche, 300 gehören zur Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache: Firmenmitarbeiter, Ehepartner von Japanern, auch japanische Christen, die sich für Deutschland und die deutsche Sprache interessieren.

Shinagawa, ein Stadtbezirk von Tokyo: Bürotürme, Apartmenthäuser, Restaurants. Mittendrin ein schmaler, steiler Weg bergan, ein altjapanisches Tor. Seit 50 Jahren steht hier die Kreuzkirche. In Japan wurde mir bewusst, wie kostbar der freie Sonntag ist. Feiertage sind in Tokyo Haupteinkaufs- und Veranstaltungstage für Firmen und Schulen. Das Tempo der Großstadt ist zu schnell für die Seele. "Früher war Kirche für mich negativ besetzt", sagte mal ein Gemeindemitglied. "Dann wurde mir bewusst, dass mir etwas gefehlt hat. Jetzt tut es mir gut, im Hauskreis meine Fragen zu stellen und gemeinsam Antworten zu versuchen."

Kirchenmusik hat hier einen hohen Stellenwert. Unsere ökumenische Kantorei ist auch für Japaner attraktiv. Überhaupt genießt deutsche Kultur einen hervorragenden Ruf. Japaner wissen viel mehr über Deutschland als umgekehrt. Und sie bevölkern unseren jährlichen Adventsbasar. Dort verkauft der japanische Herr K. Lebkuchen. Während des Irakkrieges war er für die Sicherheit japanischer Staatsbürger im Ausland verantwortlich. Sein Büro liegt nahe unserer Gemeinde. Eines Tages hatte er sich zum Taufunterricht angemeldet. Weil er viel im deutschen Sprachraum arbeite und für seine Verantwortung innere Stabilität suche. "Wir möchten etwas für andere tun." Nach intensiven Glaubensgesprächen taufte ich ihn im Ostergottesdienst. Heute lebt das Paar mit Tochter in New York. Von Zeit zu Zeit kommt von dort die Nachricht: "Uns geht's gut."