"Wir müssen Brücken bauen"

Enno Haaks ist seit Januar 2001 Pastor in Santiago de Chile an der evangelisch-lutherischen Versöhnungsgemeinde

06. Februar 2009


Was habe ich Anfang Januar unter meinem Talar geschwitzt! Gerne hätten wir Beatriz, unser jüngstes Gemeindemitglied, im Freien getauft, aber leider steht im Pastoratsgarten kein Swimmingpool. In Santiago de Chile ist jetzt Hochsommer. Von Weihnachten bis Ende Februar haben wir Sommerferien.

Beatriz' Taufe war am ersten Sonntag im neuen Jahr. Gleich da­nach fuhr ich mit über 30 Kindern und Jugendlichen ins Sommerlager ans Meer. Diese Freizeit ist auch ohne Werbung immer schnell ausgebucht. Diesmal ging es um das, was der Hebräer­brief die "Wolke der Zeugen" nennt. Um die Menschen, die ihren Glauben überzeugend gelebt haben. Um Vorbilder wie den heiligen Laurentius, um Elisabeth von Thüringen, Dietrich Bonhoeffer.

Wir sind eine engagierte, eine lebendige Gemeinde. Und Santiago ist eine anstrengende, schnell wachsende Stadt. Vor wenigen Jahren wurden die Stadtautobahn ausgebaut und das Metronetz erweitert. Das Leben hat sich dadurch noch einmal beschleunigt. Sechs Millionen Menschen sollen hier inzwischen leben, fast jeder zweite Chilene. "Santiago ist Chile und Chile ist Santiago", sagen die Leute. Alles konzentriert sich auf die Hauptstadt in der Mitte dieses langgestreckten Landes am Pazifik. Santiago ist Verkehrsknotenpunkt, politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum, das übrige Land ist eher dünn besiedelt. Alle Probleme finden sich in konzentrierter Form in der Metropole: Umweltverschmutzung, wachsende Kriminalität und große soziale Unterschiede. Es heißt, man könne im reichen Norden der Stadt leben, ohne jemals die völlig andere chilenische Realität im Süden der Stadt gesehen zu haben. Meine kleine Gemeinde hat sich mit dieser Ungerechtigkeit nie abgefunden.

Kurz nach dem Militärputsch im September 1973 gegen Salvador Allende kam es in der lutherischen Kirche zu heftigen Auseinandersetzungen: Wie sollte man sich zur neuen Militärregierung unter Augusto Pinochet stellen? Viele begrüßten sie. Andere meinten, die Kirche müsse Flüchtlingen und politisch Verfolgten helfen und gegen die soziale Ungerechtigkeit kämpfen. Es kam zum Bruch. Seitdem gibt es zwei lutherische Kirchen in Chile. Die kleinere heißt Evangelisch-Lutherische Kirche in Chile (IELCH - Iglesia Evangélica Luterana en Chile). Zu ihr gehören Gemeinden aus Armenvierteln, aber auch unsere Gemeinde im reichen Norden von Santiago, die sich 1975 bei ihrer Gründung bewusst Versöhnungsgemeinde nannte. Die größere Lutherische Kirche in Chile heißt ILCH: Iglesia Luterana en Chile.

Eine der Gründerinnen unserer Versöhnungsgemeinde ist die inzwischen 86-jährige Gisela Schmidt-Hebbel. Sie stammt aus einer deutsch-chilenischen Familie. Mit den anderen Gründern entschied sie, Kirche könne nur Kirche sein, wenn sie sich für andere einsetze. Wenn sie sich nicht mit der gesellschaftlichen Ungleichheit zufriedengebe. Sie gründete zwei Kindergärten in Armenvierteln. Wegen ihres Engagements zerbrachen Freundschaften. Selbst mit Teilen ihrer Familie überwarf sich Gisela. Man warf ihr vor, sie habe sich zu stark mit "den Linken" eingelassen. In der ILCH galt es damals schon als verdächtig, sich in einer Población, einem Armenviertel, zu engagieren. Heute ist das anders.

"Wir müssen Brücken bauen", entschied Gisela damals, "damit wir einander besser verstehen." Was sie sich damit vorgenommen hat, wird deutlich, wenn man Gustavo besucht. Er wohnt mit seiner Mutter und vier Geschwistern in einer einfachen Holz­hütte von 18 Quadratmetern. Die Kinder stammen von drei verschiedenen Vätern, die alle nicht mehr da sind.

Gustavo könnte nie auf die Deutsche Schule gehen, die monatlich 320 Euro Schulgebühr kostet. Er besucht unsere gebührenfreie Schule "Belén" in der Población Villa O'Higgins im südlichen Stadtteil La Florida, der auch ein Kindergarten angeschlossen ist. Der Staat gibt uns monatlich pro Kind umgerechnet 35 Euro, sofern der Schüler auch wirklich den ganzen Monat anwesend ist. Das ist eigentlich zu wenig. Trotzdem hielt Gisela immer an diesem Projekt fest. "Christus stellt uns an die Seite der Armen", sagt sie. Und: "Was wären wir ohne Belén? Und was wäre Belén ohne die Versöhnungsgemeinde?"

Für meine Familie und mich war der Beginn hier vor acht Jahren nicht einfach. Wir alle mussten Spanisch lernen. Die Gemeinde zählte nur ungefähr 50 Mitglieder. Gerade hatte sie eine eigene Kirche bekommen. Das Pfarrhaus lag weit entfernt. Wir mussten als Erstes ein Pfarrhaus neben der Kirche bauen, in das wir dann zwei Jahren später einziehen konnten.

Doch nach und nach hat sich eine lebendige Gemeinde gebildet. Lange schon gibt es eine wunderbare Kindergottesdienstarbeit mit einem Mitarbeiterkreis aus konfirmierten Jugendlichen. Einer von ihnen, Immanuel, feiert seit kurzem mit einigen Freunden Taizé-Andachten. Ein Gemeindechor singt hin und wieder in den Gottesdiensten. Unterschiedliche Bibelgruppen treffen sich. Die Versöhnungsgemeinde ist auf 170 eingetragene Mitglieder angewachsen, mit Kindern sind wir gut 300. Hauptsächlich sind es Deutsche und Deutsch-Chilenen, aber auch einige Chilenen. Wir sprechen Deutsch und Spanisch.

Und immer wieder versuchen wir, weitere Brücken zu bauen. Etwa zur Deutschen Schule. Dort erteile ich an zwei Tagen evangelischen Religionsunterricht und erzähle den Schülern auch von Belén - für sie eine völlig andere Welt. Außerdem unterstützt uns das Sozialwerk der Deutschen Schule. Etwa mit Altkleidern, die wir verkaufen und mit deren Erlös wir neulich ein Kopiergerät für die Schule anschaffen konnten. Mit der großen jüdischen Gemeinde in Santiago gedenken wir jährlich der Reichspogromnacht. Ihr gehören zahlreiche Schoah-Überlebende an. Rabbiner Samuel Szteinhendlers Großeltern waren in Auschwitz. Eine ­Dame namens Ana Veghazi hat mir von ihrem Hungermarsch in Ungarn erzählt, den sie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs überlebt hat.

Einmal im Jahr schließen wir unsere Kirche ab und feiern mit der alten lutherischen Nachbargemeinde gemeinsam den Volkstrauertag. Dort erinnert vor der Kirche ein Gedenkstein an die Gefallenen beider Weltkriege. Für Gisela und andere Gemeindegründer bedeutet dieser Gottesdienst in ihrer früheren Heimatgemeinde sehr viel.

Auch zur katholischen Mehrheitskirche bauen wir Brücken, indem wir unsere Kinder ein ähnliches Fest feiern lassen wie ihre Klassenkameraden: eine Kommunion. So nennen wir den Abschluss des ersten Konfirmandenjahres am ersten Advent, wenn die Kinder neun und zehn Jahre alt sind. Kurz danach beginnen unsere Krippenspielproben für Heiligabend. Weihnachten feiern wir dann im heißen Hochsommer. Lustig, wenn wir "Es ist ein Ros entsprungen" singen und sich während der Liedzeile "...mitten im kalten Winter" die Tannenbaumkerzen in der Hitze biegen!

Die meisten Gemeindemitglieder sind jung, und so geht es auf unseren Treffen immer sehr lebendig zu. Anfangs feierten wir alle fünf Jahre ein Fest unter dem Motto "Wir leben noch". Jetzt ist die Gemeinde schon 33 Jahre alt, immer wieder kommen weitere Menschen hinzu. Manche nur zeitweise, wie unsere sechs Praktikanten aus Deutschland, die sich in unserem Kindergarten und der Schule Belén im Armenviertel engagieren. Dort leben sie auch. Das ist nicht ungefährlich. Vor einem Jahr wurden zwei unserer Praktikantinnen nachts überfallen und ausgeraubt. Zum Glück ist ihnen weiter nichts passiert. Gut ist auch, dass sie regelmäßig in unseren Gottesdiensten präsent sind und dort von ihren Erfahrungen erzählen, auch von den schwierigen. So werden auch sie zu Brückenbauern zwischen unserer Gemeinde und der diakonischen Arbeit in Belén.