Das Vermächtnis der Zeugen

Videofilme sollen die Erinnerung an den Holocaust bewahren

27. Januar 2009


Manche Geschichten bleiben im Gedächtnis. Geoffrey Hartman erinnert sich an einen Mann, der von der Deportation seiner Familie in der NS-Zeit erzählte. Die Großmutter schaffte es nicht, allein auf den bereitstehenden Lastwagen zu steigen. Sie bat um Hilfe, doch der Enkel konnte sie im Gedränge nicht erreichen. "Ich helfe", sagte ein deutscher Aufseher und schoss der Frau in den Kopf.

Hartman hat viele Berichte über derart traumatische Erlebnisse gehört, und er hat sie gesammelt. 1979 gehörte er zu den Gründern des Fortunoff-Archivs an der US-amerikanischen Universität Yale, das als erstes begann, Interviews mit Überlebenden des Holocaust auf Video aufzuzeichnen. Heute sind es mehr als 4.300 Filme.

"Als wir anfingen, dachten wir, wir haben noch bis zu 15 Jahre Zeit", sagt der 79-jährige Hartman. Aber bis heute erkundigten sich jeden Monat noch Überlebende des Völkermordes an den Juden nach der Arbeit des Archivs. "Manche von ihnen haben noch eine ganz klare Erinnerung."

Das Vermächtnis der Zeugen zu bewahren, ist für den emeritierten Literaturprofessor zu einer Lebensaufgabe geworden. "Die Überlebenden müssen in ihren eigenen Worten gehört werden, und sie müssen gesehen werden", ist er überzeugt. Selbst ein Schweigen könne beredt sein, wenn es um unaussprechliches Leid gehe. Für viele ehemalige KZ-Häftlinge sei es wie eine zweite Befreiung gewesen, oft nach langer Zeit über ihre Erinnerung sprechen zu können.

Das Fortunoff-Archiv setzte weltweit die Standards für diese Form der historischen Quellensicherung. In Deutschland kooperiert es unter anderem mit der Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas in Berlin und der niedersächsischen KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen. Sie zeichnete für die Neugestaltung ihrer Ausstellung in den vergangenen Jahren selbst mehr als 350 Gespräche auf.

Im 2007 eröffneten Dokumentationszentrum in Bergen-Belsen stehen die Zeitzeugenberichte deutlich im Mittelpunkt. Aus mehr als 1.400 Stunden Lebensgeschichte haben die Mitarbeiter biografische und thematische Filme zusammengestellt, die die Besucher durch die Ausstellung begleiten. "Uns leitet dabei die Überzeugung, dass wir persönliche Geschichten brauchen, um einen Bezug zu dem herzustellen, was hier passiert ist", sagt der Leiter der Gedenkstätte, Habbo Knoch. Die Zeugnisse müssten dabei sorgfältig in die historischen Zusammenhänge und Strukturen eingeordnet werden.

Die Menschen, die in Bergen-Belsen von den Bildschirmen ihre Erlebnisse schildern, litten auch an diesem Ort. Rund 20.000 Kriegsgefangene und mehr als 52.000 KZ-Häftlinge wurden in dem Lager ermordet oder starben an Seuchen, Durst und Hunger. Auch nach der Befreiung durch britische Truppen am 15. April 1945 blieben noch bis 1950 heimatlose Überlebende ganz in der Nähe in einem "Displaced-Persons-Camp".

Die Berichte der Überlebenden seien auch für die Forschung wichtig, denn sie offenbarten Details, die sonst niemals bekanntgeworden wären, sagt Knoch, der auch Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten ist. Die Geschichte des Holocaust muss nach Auffassung des Münchner Historikers Hans Mommsen weiter analysiert werden, um zu verhindern, dass ähnliche gesellschaftliche Voraussetzungen wie in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstehen. Allein mit dem damals herrschenden Antisemitismus und Hitlers Rassenwahn lasse sich nicht erklären, wie es zu dem Völkermord von einmaligem Ausmaß gekommen sei. Der Versuch, Reaktionen und Motive der Täter zu ergründen, sei wichtig. Aber: "Immer muss dabei die Individualität der Opfer bedacht werden", mahnte Mommsen.

Das menschenverachtende System der Konzentrationslager war darauf ausgerichtet, den Inhaftierten diese Individualität abzusprechen. Ihre Namen wurden durch Nummern ersetzt. Für Bergen-Belsen sei die Abwesenheit der Namen noch lange nach dem Krieg symptomatisch gewesen, sagt Knoch. "Die Briten wollten einen respektvollen Ort, der nichts mehr mit dem früheren Lager zu tun hat." Ein Landschaftsarchitekt, der auch schon im Auftrag der SS gearbeitet hatte, gestaltete den Friedhof mit den Massengräbern der Opfer als Park - von Heidekraut überwachsen.

1946 ließen jüdische Überlebende einen ersten Gedenkstein aufstellen. Später folgte auf Anordnung der Briten eine offizielle Inschriftenwand. Heute erinnern weitere Gedenksteine wie der für Anne Frank und ihre Schwester Margot auch an einzelne Verstorbene. Für die weitere Neugestaltung des Geländes hat die Gedenkstätte inzwischen rund 15.000 Namen der 52.000 Toten wieder in Erfahrung gebracht, und es wird nach weiteren geforscht. Ein "Ort der Namen" soll später einmal die Erinnerung an sie bewahren.

Ähnliche Aktivitäten gibt es auch anderswo: Die Evangelische Versöhnungskirche  in der KZ-Gedenkstätte Dachau hat zusammen mit Partnern ein Gedächtnisbuch-Projekt initiiert. Dieses ist eine fortlaufend erweiterte Sammlung von Biographien ehemaliger Häftlinge des KZ Dachau. Seit 1999 wurden über 100 Biographien in verschiedenen Sprachen erstellt. Die internationale Wanderausstellung "Namen statt Nummern" zeigt eine Auswahl von 22 Biographien des Dachauer Gedächtnisbuch-Projekts. Die Ausstellung erscheint in fünf Sprachvarianten und ist in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Österreich und Polen zu sehen.
Schüler, Studenten, interessierte Erwachsene sowie Verwandte der ehemaligen Häftlinge erinnern an deren persönliche Schicksale und setzen sich aktiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander. Sie nehmen Kontakt zu Überlebenden oder Angehörigen der ehemaligen Häftlinge auf, führen mit diesen ein Interview, recherchieren in Büchern und Archiven, werten die gesammelten Quellen aus und schreiben schließlich eine Biographie, die sie ganz individuell mit unterschiedlichem Bildmaterial gestalten. So wird aus der  Nummer wieder ein Name. (mit epd)

Gedenkstätte Bergen-Belsen

Fortunoff-Archiv an der Universität Yale

Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau

Gedächtnisbuch „Namen statt Nummern“

Rede von Bundespräsident Köhler zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus