Wärme im doppelten Sinn

Die Vesperkirchen im Südwesten haben wieder geöffnet

23. Januar 2009


Kalt ist es! Nachts brechen regelmäßig Frostgrade über das Land herein. Jeder ist froh, wenn er in seiner warmen Wohnung mit Heizung bleiben darf und manche machen es sich in diesen Tagen besonders kuschelig: mit Wolldecke auf dem Sofa und eine heiße Tasse Tee oder Kaffee neben sich. Doch was ist mit denen, die häufig genug und verschämt „obdachlos“ genannt werden. In Stuttgart – und in einigen anderen Städten im Südwesten Deutschlands – haben „Menschen ohne festen Wohnsitz“ wenigstens tagsüber eine Bleibe: Die Vesperkirchen haben wieder geöffnet! Und dort sind nicht nur die willkommen, die auf der Straße leben, sondern alle, die in ihrem Leben an Heizung, Essen und Trinken sparen müssen. Und alle anderen auch.

Vor 15 Jahren hat der damalige Stuttgarter Diakoniepfarrer Martin Friz diese Aktion ins Leben gerufen. In der Stuttgarter Leonhardskirche ging es los. Zuerst mit einer kleinen Gruppe und vielen offenen Fragen. In diesem Jahr findet die Vesperkirche in Stuttgart zum 15. Mal statt. Für viele ist er während der neun kalten Wochen Anfang des Jahres zu einem zweiten – oder auch zum einzigen – Zuhause geworden. Martin Friz hat sich in der Zwischenzeit in den Ruhestand verabschiedet und seine Nachfolgerin, Karin Ott, hat zusammen mit Sonja Berger, die schon in den vergangenen Jahren die Vesperkirche mit geleitet hat, sich der Aufgabe gestellt. Sechs Wochen ist in diesem Jahr die Vesperkirche in der Leonhardskirche geöffnet – außerdem gibt es Vesperkirchen in Mannheim, Schwenningen, Aalen-Wasseralfingen, Geislingen, Göppingen, Reutlingen, Ulm, Esslingen, Kirchheim/Teck und Öhringen.

Vesperkirchen geben der Armut ein Gesicht, wissen die Verantwortlichen. Altersarmut sei zurückgekehrt, sagt die Diakonin Sonja Berger dem Stuttgarter Wochenblatt. Aber auch die Zahl von jungen Menschen ohne Schulabschluss nehme ebenso zu wie die Zahl von Hartz IV Empfängern. Und so ist die Vesperkirche auch etwas anderes: Treffpunkt für Menschen, die sonst nur in ihrem eigenen Umfeld leben und die Armut anderer nicht wahrnehmen können. Für viele, denen es besser geht, ist es zudem eine zeitlich klar beschränkten Möglichkeit, sich ehrenamtlich einzusetzen und nah mit denen zu arbeiten, denen ein wenig Unterstützung und Hilfe gut tut.

So kann es gerade für die, die Kälte und Frost in diesen Wochen am eigenen Leib spüren, nicht nur ein warmer Platz und ein Teller gut bürgerliches Essen, ärztliche Versorgung und das Angebot zum Gespräch, sondern ein bürgerschaftliches Engagement besonderer Art. Darauf hat Veronika Kienzle hingewiesen, Bezirksvorsteherin von Stuttgart-Mitte, wo die Vesperkirche zu Hause ist: „Genug ist nicht genug! Natürlich muss in einem reichen Land und in einer Stadt wie Stuttgart auch ohne Vesperkirche eigentlich niemand hungern oder auf der Straße schlafen. Ein engmaschiges Hilfenetz  bietet  jedem Hilfesuchenden einen Platz in der Notübernachtung oder einen Lebensmittelgutschein. Aber können wir uns damit beruhigen? Was ist "genug"?

So bietet die Vesperkirche auch uns einen Raum, in dem wir, die wir augenscheinlich von allem genügend viel zur Verfügung haben, nachdenken können: Wer verteilt denn die Dinge so ungerecht, wenn von allem genug da ist? Und: Teilen wir vielleicht lieber materielle Dinge als Zeit, Gefühle, Emotionen? Die Vesperkirche mit ihren vielen ehrenamtlichen Helfern gibt eine gute Antwort auf diese Frage: Der Mensch braucht ein Dach über dem Kopf und eine warme Suppe in den Bauch. Er braucht aber genauso dringend Mitmenschen, die ihre Zeit teilen, die sich mitteilen und ihm zuwenden. Die Vesperkirche verbindet und bietet Gemeinschaft und zeigt auch Möglichkeiten auf, selbst etwas zu tun!“

Vesperkirche Stuttgart