Gottesdienst im Keller

Pfarrer Rainer Wutzkowsky betreute 2008 die Christliche Gemeinde deutscher Sprache in Alanya in der Türkei

13. Januar 2009


"Sommer, Sonne, Fettgeruch", titelte die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" im vergangenen Herbst und brachte einen einigermaßen bissigen Bericht über die "deutsche Kolonie" an der türkischen Riviera in Alanya. Auch unsere Gemeinde wurde bedacht. Deutsche, die sich hier niedergelassen haben, ärgern sich nur noch wenig über Berichte dieser Art. Solche Reportagen in Zeitungen und im Fernsehen ist man beinahe schon gewohnt. Da ist zum x-ten Mal von "Willis Kneipe“ mit Skatrunde, Sauerkraut und Rouladen die Rede. Oder von "Rudi aus Bottrop", der auch nach zehn Jahren noch kein türkisches Wort kennt und der hier "wie in Bottrop" lebt - nur mit mehr Sonne und dem Meer vor der Haustür. So ist das Klischee.

Die Menschen, die ich hier kennengelernt habe, sind anders, wenn nicht auf den ersten Blick, dann doch auf den zweiten. Zwar wollen sie alle die Wärme, die herrlichen Früchte vom bunten Markt, die billigere Wohnung, das blaue Meer, das leichtere, beschwingtere Leben, die türkische Gastfreundschaft und Freundlichkeit vor allem älteren Menschen gegenüber. Aber ist das schlecht - zumal wenn die Rente klein ist und kaum noch für die Heizkosten zu Hause reicht? Die meisten hier haben im Leben immer unten rangiert. Nein, schlecht ist es nicht, wenn sie es auch besser haben wollen. Und ein paar Worte Türkisch können sie mittlerweile auch. Die Sprachkurse sind hier voll.

Seit meiner Ankunft im vergangenen März bin ich allerdings auch voller Bewunderung für die Türken, die Deutsch sprechen, auch für die in Deutschland. Deutsch muss für sie doch wohl genauso schwer zu lernen sein wie für uns Türkisch.

Überhaupt die Türken: Wie sehr unterscheidet sich ihre Kultur von der unseren! Bis in Gesten und Körpersprache hinein ist alles anders. Und sie sind freundlich und geduldig mit uns Ausländern. Hilfsbereit und einfach nett. Nur ein paar Kilometer vor der Stadt bringen uns Leute Blumen oder Früchte als Geschenk, wenn wir mit der Wandergruppe unterwegs sind - einfach so. Natürlich werden Ausländer und Touristen auch betrogen und übervorteilt. Wo auf der Welt ist es anders, wenn Touristenmassen die Kultur verändern?

An den Muezzin morgens um fünf oder sechs Uhr muss man sich gewöhnen. Aber neidvoll sehe ich als evangelischer Pfarrer, wie ganze Männerscharen in die Moschee strömen und wie selbstverständlich man seine Religion öffentlich praktiziert. Die Religion ist lebendig und gehört ohne Frage zum Leben dazu. Mit welchem Stolz die jungen hübschen Frauen ihr Kopftuch tragen! Ich weiß nicht, ob sie weniger selbstbewusst sind als die halbnackten Touristinnen in der Stadt.

Allein 6000 Deutsche sollen hier ständig oder teilweise wohnen, dazu kommen Niederländer, viele Skandinavier und neuerdings Iren und Polen. Wir Christen sind öffentlich nicht so leicht zu bemerken und auch nicht leicht zu finden. Immerhin hängen zwei, drei Plakate an markanten Plätzen aus und laden zum ökumenischen Gottesdienst am Sonntag ein - im Keller. Die Stadt Alanya hat uns einen Raum im großen städtischen Kulturzentrum, einen Kellerraum, zur Verfügung gestellt. Aus dem haben wir im letzten Jahr unsere Kirche gemacht. Einen Ambo (ein Pult für die Schriftlesungen und die Predigt) und einen runden Altartisch haben wir zimmern lassen.

Eine junge Deutsche, die mit einem Türken verheiratet ist, zaubert aus Treibholz kleine Kunstwerke. Sie hat uns ein Altarkreuz gearbeitet und geschenkt. Unsere Organistin Julia, Russin, sitzt am Keyboard, das eine Kartenspielgruppe "erspielt" und uns geschenkt hat. Und dann feiern wir Gottesdienst. Manchmal mit 30, oft mit 60 und manchmal sogar mit 90 Besuchern. Alte Menschen, Rentner, Witwen - Familien mit Kindern gibt es fast nur im Sommer. Das sind die Polen.

Und ökumenisch sind wir. In Antalya, 130 Kilometer westlich, arbeitet ein katholischer Kollege, der vor fünf Jahren hier überhaupt erst begann. Es geht bei uns wie in Deutschland bei den sogenannten ökumenischen Trauungen zu: Antalya ist katholisch mit evangelischer Mitwirkung. Und Alanya ist evangelisch mit katholischer Mitwirkung. Aber wen interessiert das? Die Menschen hier nicht. Trotzdem: Beim Abendmahl einmal im Monat legt der katholische Kollege Wert auf die katholische Heilige Messe. Er kann und darf ja wohl nicht anders. Ich lade ökumenisch offen ein, und sie kommen, fast alle.

An den zweiten Feiertagen (am Oster- und Pfingstmontag sowie am zweiten Weihnachtstag) fahren wir zum ökumenischen Gottesdienst nach Belek, zwischen Alanya und Antalya gelegen. Dort treffen wir uns mit der Gemeinde aus Antalya. Ein Hotelkonsortium hat in Belek eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche nebeneinander errichtet. Der Ort heißt "Garten der Toleranz". Wenn das nicht nur Alibifunktion hat - es wäre ein Modell für die abrahamitischen Religionen. Interreligiöse Veranstaltungen gibt es dort leider (noch) nicht. Aber wie denn auch - wenn die anderen Religionen innerlich etwa auch so zerklüftet sind, wie wir Christen uns manchmal noch zeigen!

Auch die Holländer und Norweger benutzen "unseren" Keller für ihre Gottesdienste. Pfingsten feiern wir zusammen in allen Sprachen. Sogar die erste Sure des Koran wurde beim letzten Mal arabisch gebetet. Manchmal fühlte ich mich in solchen Momenten dem Paulus sehr nahe, wenn das nicht zu vermessen ist. Vor 2000 Jahren hat er in dieser Gegend begonnen. Ich glaube, er war schon weiter, als wir es heute hier sind.

Noch einmal die Norweger. Ihre Seemannskirche - eine Art CVJM für die norwegische Auslandsarbeit - hat im September 2008 hier in einem ehemaligen Restaurant ein Begegnungszentrum eröffnet. In der türkischen Lokalpresse hieß es bald "Geheimkirche", weil sie dort auch ihre Gottesdienste feiert. Seitdem gehen sie zum Gottesdienst wieder in den Keller. Man sieht, wie dünn das Eis unter unseren Füßen ist. Wir wissen auch nicht, ob ein anderer Bürgermeister uns den Keller nicht wieder entzieht. Wir gehen davon aus, dass man in Zeiten von EU-Beitrittsverhandlungen Ausländer nicht verprellen will. Aber weiß man's?

Wir Deutschen dürfen das "Norwegische Haus" mitbenutzen. Jeden Dienstag gibt es dort unser Gemeindecafé. Viele kommen. Es spricht sich herum. Ich sah Gesichter, die ich nicht aus dem Gottesdienst kenne - und ich glaube, diese Leute kommen nicht nur wegen des leckeren selbst gebackenen Kuchens. Der Mensch lebt ja nicht vom Brot allein, sondern mehr noch vom Gespräch.

Verkaufen dürfen wir nichts. Da kämen wir mit dem Gesetz in Konflikt. Deshalb gibt es auch keinen Weihnachtsbasar. Und das in der Türkei, wo alles Basar ist! Deshalb verschenken wir alles - und aus purer Dankbarkeit gibt uns jeder - wirklich jeder - eine Spende. Türkische Lösung nennen wir das.

Überhaupt können wir uns nur mit türkischen Lösungen über Wasser halten. Unsere Schwestergemeinde in Antalya wird von A bis Z von der Deutschen Bischofskonferenz alimentiert. Außerdem kommen Bildungstouristen dorthin und lassen Spenden da. Die Evangelische Kirche in Deutschland erwartet von uns in Alanya einen nennenswerten Eigenbeitrag, bevor sie mit ihrer ohnehin sparsamen Subventionsgießkanne kommt. Das schürt Neid, Konkurrenzgefühle, manchmal sogar Wut und Verbitterung. Auch Christen sind Menschen.

Ich bin übrigens ebenfalls Pensionär. Ich war neun Monate als Pfarrer i. R. (in Ruhe), wie es heißt, in dieser Gemeinde tätig. Eigentlich sollte es Pfarrer i. A. heißen: im Abenteuer. Mein Abenteuer war es wert, zumal weil es ein geistliches war. Dem nächsten Pfarrer i. R. wünsche ich es auch so.