Ein nüchterner Alltagschrist

Helmut Gollwitzer wäre am 29. Dezember 100 Jahre alt geworden

27. Dezember 2008


Seine Rede am Grab der Terroristin Ulrike Meinhof , die sich 1976 in Stammheim das Leben nahm, erregte die Gemüter. Doch in der Zustimmung auf der einen Seite und in der ablehnenden Stimmung auf der anderen ging unter, was der Berliner Theologieprofessor und Pfarrer Helmut Gollwitzer (1908-1993) wirklich gesagt hat: Gollwitzer sprach zwar davon, dass er und die Ulrike Meinhof das gleiche Ziel vor Augen gehabt hätten, nämlich die Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Ausbeutung, aber seine wichtige Unterscheidung dessen, der am 29. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre, wurde damals kaum wahrgenommen: Ulrike Meinhof habe seine gewaltfreie Haltung „entschieden abgelehnt und ebenso habe ich ihren Weg abgelehnt.“

Kein anderer Theologe hat wie er den Weg der 68er und der anschließenden Spaltung in Terrorismus und Gewaltlosigkeit und sozial-ökologische Bewegung begleitet. Helmut Gollwitzer hielt die Traueransprache für den Studenten Benno Ohnesorg, der 1967 bei Protesten gegen den Schahbesuch von einem Polizisten erschossen worden war. Dessen Witwe lebte nach der Ermordung mit dem Sohn für kurze Zeit im Haus Gollwitzer. Später hielt er auch die Trauerrede für Rudi Dutschke, einen der bekanntesten Anführer der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre. Dieser ist 1979 in Arhus an den Folgen des Attentats, das am Gründonnerstag 1968 auf ihn verübt wurde, gestorben. Auch Gretchen Dutschke und Sohn Hosea Che fand nach der lebensgefährlichen Verletzung ihres Mannes und Vaters Aufnahme bei Gollwitzer und seiner Frau Brigitte.

Die Auseinandersetzung mit den protestierenden Studenten war für den Professor an der Freien Universität Berlin eine Herausforderung, mit der jungen Generation ins Gespräch zu kommen, nicht die Proteste wie viele seiner Kollegen einfach nur abzulehnen. Bei einem Teach-in an der Berlin FU befürwortete Gollwitzer die Unterscheidung zwischen "Gewalt gegen Sachen" und "Gewalt gegen Menschen", wofür er viel Kritik einsteckte. Mit dem katholisch geprägten Schriftsteller Heinrich Böll demonstrierte er Jahre später bei einer Sitzblockade vor der Raketenbasis Mutlangen. Überhaupt verband die beiden „Apo-Opas“ viel – zusammen bekamen sie 1974 die Carl-von-Ossietzky Medaille verliehen und dafür den Protest mancher aktiver Politiker.

Der evangelische Pfarrer Helmut Gollwitzer sah seinen christlichen Glauben stets als öffentliche Aufgabe – das verband ihn bis ins hohe Alter in einer Freundschaft mit dem ehemaligen Berliner Bischof und Ratsvorsitzenden der EKD, Kurt Scharff, und dem ehemaligen Berliner regierenden Bürgermeister, Heinrich Albertz, der nach dem Tod von Benno Ohnesorg zurück getreten und wieder ins Pfarramt gegangen ist. Und wenige Monate nach seiner Trauerrede für Ulrike Meinhof beerdigte er seinen langjährigen Freund Gustav Heinemann, verbunden durch intensive politiche Diskussionen, die die beiden seit der Zeit Gollwitzers in Bonn gepflegt haben.

So sehr Gollwitzer sich seit der Debatte um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in öffentliche Diskussionen einmischte, so sehr war er zuerst und vor allem Theologe, Pfarrer und Seelsorger. Die NS-Zeit hat den Theologen geprägt, der in ein national wie religiös konservatives Pfarrhaus im bayerischen Pappenheim hineingeboren wird. Er schließt sich früh der Bekennenden Kirche an, die gegen die Gleichschaltung der Kirchen und die rassen-ideologische Verfälschung des christlichen Glaubens kämpft. Im Jahr 1940 wird er mit Reichsredeverbot belegt und aus Berlin ausgewiesen. Zuvor hatte er sich ab 1937 in Berlin-Dahlem engagiert, einer der Hochburgen der Bekennenden Kirche. Nach der Festnahme des dortigen Pfarrers Martin Niemöller, der bis zum Kriegsende als "persönlicher Gefangener des Führers" im Konzentrationslager Sachsenhausen einsaß, führte Helmut Gollwitzer zusammen mit der Gemeinde tägliche Fürbittgottesdienste ein. In Dahlem predigt Gollwitzer auch zum Buß- und Bettag 1938 – wenige Tage nach der Reichspogromnacht, bei der 1.400 Synagogen zerstört und rund 30.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt worden waren. Die kleine Kirche ist an diesem Tag bis auf den letzten Platz gefüllt: "Nun wartet draußen unser Nächster, notleidend, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt und umgetrieben von der Angst um seine nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die christliche Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat."

Nach der Rückkehr aus vierjähriger Kriegsgefangenschaft wurde er zuerst Professor in Bonn, dann an der Freien Universität in Berlin. Als Professor war er ein großartiger Glaubenszeuge und Seelsorger, erinnern sich seine Studentinnen und Studenten: "entschlossen, aber nicht radikal, mutig, aber nicht zum Märtyrertum geeignet, konservativ verwurzelt, aber mit größtem Freimut".

„Krummes Holz – aufrechter Gang“ überschrieb er sein „Programm gegen den Nihilismus der Sinnlosigkeit“. Das umfangreiche Buch, das der Zeitjournalist Robert Leicht bei seinem Erscheinen 1970 als das „schönste Buch zeitgenössischer Theologie“ bezeichnete, war in diesen Jahren einer der entscheidenden Beiträge zu der in dieser Zeit viele Diskussionen beherrschenden Sinnfrage. Mit der Aufnahme zeitgenössischer Literatur und Dichtung und in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen politischen Meinungen wollte der Berliner Theologe jungen Menschen Mut machen, nicht pessimistisch in die Zukunft zu schauen. An vielen Universitäten und an Gymnasien bildeten sich Lesekreise, in denen Studierende oder Schülerinnen und Schüler selbstständig „Krummes Holz – aufrechter Gang“ lasen und diskutierten.

Rechtzeitig zu seinem nun anstehenden 100. Geburtstag hat der Journalist Ralph Ludwig unter dem Titel „Der Querdenker“ eine liebevoll geschriebene Biographie in der Reihe „wichern-porträts“ veröffentlicht. Auf 120 Seiten beschreibt er das Leben des Theologen: wie er aus der bayerischen Vikarsausbildung „entfernt“ wurde, weil er bis spät in die Nacht mit einer Kollegin diskutiert hat und so zu Karl Barth nach Bonn kam, wie er nach dem Krieg seine Frau Brigitte kennengelernt hat und sie immer ein Motor seines Engagements war und dazu noch vieles mehr. Zum Schluss bleibt nur die Frage, ob der Titel „Der Querdenker“ passend ist: War nicht Helmut Gollwitzer derjenige, der immer streng an der Bibel orientiert nach vorne – und eben nicht quer – gedacht hat? So hat er sich selbst als „nüchternen Alltagschrist“ bezeichnet, für die jungen Menschen der 70er und 80er Jahren gehörte er zu den „zornigen Alten“, zu denen viele – gerade auf den evangelischen Kirchentagen – großes Vertrauen hatten.