Papageien im Richmond Park und Rosinenpudding zu Weihnachten

Anne-Kathrin Kruse, 51, ist als Pfarrerin mit ihrem Mann für fünf Gemeinden zwischen London und Oxford verantwortlich

25. November 2008


Sonntagabend gegen 23 Uhr klingelt das Telefon. Es ist ein Tag vor Heiligabend und - kaum zu glauben, aber wahr - die erste neblige Nacht dieses Jahres. Ein Kollege aus Deutschland meldet sich: "Meine Tochter rief uns gerade aus London-Heathrow an. Sie kam mit dem Flugzeug aus Vancouver und wollte nach einer Zwischenlandung in London heute Abend bei uns eintreffen. Nun sind aber in London fast sämtliche Flüge wegen Nebels ausgefallen, unsere Tochter hat kein Geld und kennt niemanden in London. Wo könnte sie über Weihnachten unterkommen?"

Ich hatte mich schon über die ungewohnte Ruhe am Himmel gewundert. Unser Pfarrhaus liegt direkt in einer der Einflugschneisen. London-Heathrow, Drehscheibe zwischen den Kontinenten, ist der verkehrsreichste Flughafen der Welt. Alle drei Minuten überfliegt ein Flugzeug unser Haus.

Nun aber sitzen Hunderttausende in den Flughafengebäuden fest. Hotels in London, Fähren und Züge des Eurostar zum Kontinent (den viele Engländer einfach "Europa" nennen), alles ist hoffnungslos ausgebucht. Natürlich haben wir mit der Tochter des Kollegen gemeinsam Weihnachten gefeiert.

Faszinierend ist das Leben in dieser multikulturellen und multireligiösen Millionenstadt und viel bunter als die deutsche Vorstellung von London aus so manchem schwarz-weißen Edgar-Wallace-Krimi der 60er Jahre. Der berühmte Londoner Nebel war in Wahrheit Smog und kam unter anderem aus den unzähligen Kaminen, die früher mit stark rußender Kohle gefüttert wurden. Die ehemals schmutzig-grauen Fassaden leuchten heute wieder in strahlendem Weiß. Und tatsächlich regnet es in London weit weniger als in manchen Gegenden Deutschlands, meist ist es einige Grade wärmer als im Umland, in den Gärten und Parks wachsen Palmen, und die wild lebenden Papageien im Richmond Park scheinen das milde Klima zu lieben. Auch in den Wintermonaten sitzen die Leute draußen vor den Cafés.

Faszinierend ist an London aber vor allem, wie diese Metropole es schafft, seit ihrer Gründung durch die Römer vor 2000 Jahren Menschen von allen Kontinenten aufzunehmen und zu integrieren. Man spricht hier über 300 verschiedene Sprachen, eine der häufigsten neben Englisch ist Gujarati, ein indischer Dialekt. Von den 7,5 Millionen Londonern wurde knapp ein Drittel im Ausland geboren. Da es keine Meldepflicht gibt, kann man nur schätzen, wie viele Deutsche in London leben: 40.000 bis 80.000.

In manchen Stadtteilen meint man, nach Indien, Thailand oder in die arabischen Emirate versetzt zu sein. Der Turban, die Burka, der Sari, die Kippa gehören selbstverständlich zum Straßenbild wie die unterschiedlichen Hautfarben. Nachdem Freunde von uns mit ihren Kindern nach Deutschland zurückgekehrt waren, fragten diese im Bus ganz enttäuscht: "Warum sehen die Menschen hier alle gleich aus?"

Entsprechend vielfältig ist Londons religiöse Landschaft. Neben der Church of England sind alle christlichen Konfessionen vertreten, auch über 600.000 Muslime, dazu Sikhs, Juden und eine unbekannte Zahl weiterer religiöser Gruppierungen. London beherbergt den zweitgrößten Hindutempel außerhalb Indiens. Mitten in London steht das prächtige "Ismaili Center", das Gemeindezentrum der Ismaeliten. Die Stadt ist ein Schmelztiegel - trotzdem gibt es Vorurteile und Rassenhass. Die Gewalt in manchen Stadtteilen hat stark zugenommen. Die englische Klassengesellschaft bietet vielen kaum eine Perspektive, jemals aufzusteigen.

In dieser chaotischen Millionenstadt, wo der Verkehr mehr steht als fließt, lebe ich seit fünf Jahren mit meinem Mann und unseren beiden Töchtern, die London als ihre Heimat betrachten. Mein Mann und ich teilen uns eine Pfarrstelle in London-West, wir versorgen von hier aus fünf Gemeinden. Früher waren für sie mal drei Pfarrstellen vorgesehen. Wir haben kein zentrales Gemeindehaus, kein Gemeindebüro, kein Gästehaus, keine bezahlten Mitarbeitenden außer der Pastoralassistentin. Die Gemeinden finanzieren sich komplett aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Sie könnten ohne hoch Engagierte gar nicht existieren.

Die 1683 gegründete Gemeinde der Christuskirche feierte ihre Gottesdienste zunächst in der königlichen Hofkapelle des St. James Palace. Vor 104 Jahren stiftete ein deutscher Bankier das Kirchengebäude. 1934 hielt Dietrich Bonhoeffer, der 1933-35 als Pfarrer in London seine ökumenischen Kontakte für den Widerstand gegen Hitler knüpfte, hier eine Pfarrversammlung ab, die sich von der deutschen Reichskirche lossagte. Ihm ist am Westportal von Westminster Abbey ein Denkmal gesetzt. Seinem theologischen Erbe fühlen sich die Gemeinden verpflichtet. Die anderen West-Londoner Gemeinden in Petersham, Oxford, Reading und Farnborough sind gegen Miete zu Gast in den Gotteshäusern anderer Konfessionen. Zu Sitzungen und anderem trifft man sich in privaten Wohnzimmern oder im Pub. Doch die wenigsten Menschen, mit denen wir es hier tun haben, suchen Gemeinschaft in regelmäßigen Kreisen. Dazu sind sie viel zu beschäftigt. Die Gemeinden bestehen vor allem aus Bankern, Finanzmaklern, Börsianern, Ärzten, Wissenschaftlern, Journalisten und ihren meist jungen Familien. Allerdings erwarten sie qualitativ gute Gottesdienste mit anschließendem Zusammensein, dem "Social". Dazu kommen immer häufiger Taufen und Trauungen. So feiern wir an jedem Wochenende zwei bis drei Gottesdienste. Und sie suchen Unterstützung in der religiösen Kindererziehung, im regelmäßigen Kindergottesdienst, Kinderbibeltagen, Konfirmandenunterricht.

Es kommt auch vor, dass die schwer herzkranke und drogenabhängige Frau W. im Gefängnis um einen Besuch bittet. Wegen Drogenschmuggels ist sie zu 14 Jahren Haft verurteilt worden.

Und dann ist da das über neunzigjährige "Fräulein" M., sie stammt von einem Bauernhof bei Bad Kreuznach und war ab 1938 Hausmädchen bei der Londoner Familie Astor (von den Waldorf-Astoria-Hotels). Als sie nach einem Jahr wieder zurückwollte, war die Grenze wegen des Zweiten Weltkriegs geschlossen. Sie blieb bis zu ihrem Tod, vor kurzem, in London.

Oder Frau L., die in Wien evangelisch erzogen wurde. Ihre jüdischen Eltern hatten gehofft, ihr Kind so vor den Nationalsozialisten zu schützen. Sie kam als Fünfzehnjährige nach London und blieb. Ihre Eltern kamen in Auschwitz um.

Bald ist Weihnachten. Hier beginnt der Trubel schon Mitte November, und es geht dabei eher karnevalistisch als besinnlich zu. Den ganzen Dezember über feiert man in den Pubs feuchtfröhliche "Christmas-Partys", auch mit Feuerwerk. Ganze Straßenzüge blinken knallbunt in der Nacht. Umso stärker ist bei den Deutschsprachigen die Sehnsucht nach vergleichsweise stiller Advents- und Weihnachtszeit. Sie treffen sich zum Adventskranzbinden, besuchen Weihnachtsmärkte, strömen zu den Adventsspielen der Kinder in unsere Gemeinden und in die zahlreichen Aufführungen von Händels "Messias". Besonders eindrucksvoll ist ein internationaler ökumenischer Adventsgottesdienst in der berühmten Oxforder Universitätskirche mit exzellenter Chormusik, Christmas Carols und Lesungen in verschiedenen Sprachen.

Während sich die "Lutherans" (so nennt man deutschsprachige evangelische Gemeinden hier) am Heiligabend zum Gottesdienst treffen, ist für die Briten letzte Gelegenheit für hektische Einkäufe. Ihre Kinder schauen erst am Weihnachtsmorgen, am 25. Dezember, nach den bunten Strümpfen am Kaminsims, die Santa Claus über Nacht gefüllt hat. Nach dem Gottesdienst gibt es ein Dinner mit gefülltem Truthahn und Christmas Pudding, einen schweren Rosinenkuchen, zum Nachtisch. Mal sehen, mit wem aus aller Welt unsere Familie diesmal Weihnachten feiert.