Auf Dschunken zur ökumenischen Sankt-Martins-Andacht

Ute Reckzeh teilt sich mit ihrem Mann Sven Salzmann die Pfarrstelle in Hongkong

31. Oktober 2008


Im November ist in Hongkong Basarzeit, auch in unserer Gemeinde. Wenn wir um zehn Uhr die Tür öffnen, stehen die Ersten schon Schlange. Eine Frau streifte vergangenes Jahr stundenlang durch die Reihen, kaufte viel. Später rief sie mich auf dem Handy an, ich möge doch bitte alle Engelfiguren für sie zurücklegen, sie hole sie morgen bei mir ab. Ich kenne sie gar nicht, wie sie wohl meine Telefonnummer und Adresse herausbekommen hat?

Die heißbegehrten Waren bekommen wir von Firmen geschenkt: ausrangierte, neuwertige Warenmuster, Weihnachts- und Osterdekoration, Kleidung, elektronische und elektrische Geräte und Spielzeug. Jeder Basar erinnert an einen Umzug. An die 200 Kisten werden geliefert. Wenn wir etwa zwei Drittel verkaufen, nehmen wir gut 4500 Euro ein - so viel wie unsere Pfarrwohnung monatlich an Miete kostet. Was nicht verkauft wird, geht an chinesische Gemeinden und Hilfsorganisationen.

Manchmal erschrecke ich, wie viel Arbeit wir in Organisation und Vorbereitung stecken müssen, und wie wenig Zeit demgegenüber für unsere inhaltliche Arbeit bleibt. Aber zwei Drittel des Etats muss unsere Gemeinde selbst finanzieren, durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und eben Basareinnahmen. Zu den Kosten zählt auch die exorbitante Miete für die Pfarrwohnung, die übrigens noch vergleichsweise niedrig ist. Die Wohnungspreise sind hier maßlos. Fällt die Wohnung etwas größer als unsere aus, liegt man schnell beim doppelten Preis, monatlich wohlgemerkt.

Unserer Pfarrwohnung besteht, neben Schlaf- und Kinderzimmer, aus einem Büro und einem etwas größeren Wohn- und Esszimmer mit Wintergarten. Hier trifft sich die Vorbereitungsgruppe für den Gottesdienst, hier führen wir Seelsorgegespräche, versammeln sich kirchlich interessierten Reisegruppen oder Touristen aus Deutschland. Frauen- und Literaturkreis sowie der Gemeindekirchenrat tagen an unserem Esstisch. Die größte Veranstaltung in unserer Wohnung mit Terrasse und angrenzendem Garten war ein Nikolausfest mit 40 Kindern und 30 Erwachsenen. Zum Glück spielte das Wetter mit. Kinder- und Konfirmandengruppen verlagern wir in den Wintergarten. Nur wenn der Regen auf das undichte Kunststoffdach trommelt, gehen wir mit ihnen rein. Manchmal denke ich: Ähnlich familiär wird es in urchristlichen Hausgemeinden zugegangen sein.

Vor allem die Taifune bringen Regen. Ab Warnstufe 3 schleppen wir Holz- und Plastikmöbel von der Terrasse in den Wintergarten und stellen ein Planschbecken unter die undichte Stelle. Bei Warnstufe 8 schließen Schulen, Geschäfte und Börse, der Verkehr ruht. Im September erlebten wir den bislang heftigsten Sturm. Am nächsten Morgen fiel die Schule aus. So viele Bäume waren umgestürzt, dass Schulbusse nicht durchkamen. Bei einem Taifun lag ich nachts wach, und weil es so laut war, spähte ich durchs Fenster. Genau in dem Moment stürzte ein großer Baum vor unserer Terrasse um, zum Glück in den Garten, nicht auf den Wintergarten. Zuvor hatte der tagelange Regen den Boden so aufgeweicht, dass er viele Bäume einfach nicht mehr hielt.

Gottesdienste feiern wir jeden zweiten Sonntag mit meist jungen Familien in der ehemaligen Turnhalle der Deutsch-Schweizerischen Internationalen Schule, in der ich Religionsunterricht gebe. Der Kindergottesdienst findet in einem Klassenraum statt. Dreimal im Jahr sind wir auch in Kirchen zu Gast, Heiligabend etwa in der anglikanischen Kathedrale St. John's im Zentrum zwischen den Banktürmen, der ältesten Kolonialkirche Hongkongs aus dem Jahr 1849. Zu Weihnachten werden dort acht Gottesdienstgemeinden nacheinander durchgeschleust. Jedes Jahr weist man uns eine andere Zeit zu. In Hongkong lebt man flexibel.

Etwa 70 Familien zählen sich zu unserer Gemeinde. Die meisten sind ein paar Jahre hier und ziehen dann weiter: Angestellte von Banken, Handelshäusern oder Chemieunternehmen, mit Frauen und Kindern. Als christliche Gemeinde wollen wir dem Leben mit Abschieden etwas Kontinuierliches entgegensetzen, ein Stück Heimat. Wir verwenden viel Energie darauf, uns den Neuen in der Stadt bekanntzumachen. Neuerdings haben wir sogar Mitglieder auf Taiwan. Viermal im Jahr fliegt mein Mann dorthin für Gottesdienst, Konfirmanden- und Religionsunterricht.

Schon bevor wir in die Sieben-Millionen-Stadt zogen, hatten wir hier Freunde. Mein Mann hatte Anfang der 90er Jahre in Hongkong studiert, mit seinen Exkommilitonen treffen wir uns ab und zu. Ebenso mit unserer früheren chinesischen Nachbarsfamilie. Der Mann hat uns ins allgegenwärtige Mah-Jongg-Spiel eingeführt, seine Frau hat für mich die chinesische Rückseite meiner Visitenkarte gestaltet. Meinen Namen ins Chinesische zu übertragen, fand sie nicht ganz einfach: "Hu de rui" heiße ich nun. Ein femininer, eleganter und blumiger Name, wie mir die Freundin versicherte. Im letzten Schriftzeichen sind drei Herzen vereint. Sie stehen für ein großes Herz voller Liebe.

Die Grenze nach China ist stark gesichert, obwohl die Stadt schon seit 1997 zur Volksrepublik gehört; Hongkong fürchtet einen Anstrum von Arbeitssuchenden. Dass die chinesischen Behörden alles kontrollieren, spielt im Alltag keine Rolle. Nach wie vor gibt es in Hongkong Religionsfreiheit. Anders als im restlichen China müssen wir uns als Auslandsgemeinde vor keiner Religionsbehörde verbergen, sondern sind ein anerkannter, wohltätiger Verein. Auch Chinesen nehmen am Gemeindeleben teil, vorwiegend die chinesischen Ehepartner von Deutschen.

Neulich fragte mich jemand, wie wir in dieser Betonwüste leben könnten. Ein Vorurteil. Hongkong hat 260 Inseln. 40 Prozent der Fläche sind Naturparks, es gibt viele Strände und in den Bergen Wanderwege. In der ehemaligen britischen Kolonie existieren westliche und östliche Kultur nebeneinander. Gern hören wir Konzerte des "Hong Kong Chinese Orchestra" - mit chinesischen Instrumenten. Musik ist meine Leidenschaft. Ich spiele Tenorsaxophon, Quer- und Blockflöte, am liebsten Kammermusik.

Vergangenes Jahr haben wir im Advent Wunschweihnachtslieder gesungen. Etwa 80 Leute kamen, brachten ihre Instrumente, sangen und spielten gemeinsam. Mit einer kleinen Musikgruppe gaben wir konzertante Einlagen. Ein kleiner Steppke war so begeistert, dass er auf einen Stuhl stieg und aus vollem Halse in "Lasst uns froh und munter sein" einstimmte. Ein Nikolaus verteilte Geschenke und bekam als Dankeschön einen vollgeschmückten Plastikweihnachtsbaum vom Basar. Stollen und Glühwein genossen wir bei plus 20 Grad. Dieses Jahr wiederholen wir das Wunschliedersingen.

Das chinesische Essen ist unschlagbar. "Dim Sum" etwa: mit Fleisch und Gemüse gefüllte Teigtaschen aus Reismehl, gedämpft und in Bambusschalen serviert. Dazu "Hühnerfüße", nicht jedermanns Geschmack, wir essen sie sehr gern - natürlich alles mit Stäbchen, was ein wackeliger Balanceakt werden kann. Unsere achtjährige Tochter beherrscht das schon perfekt. Wenn man als Gruppe essen geht, stehen die Speisen in der Mitte, jeder greift mit seinen Stäbchen rein, eine gesellige Angelegenheit. Am Ende streiten sich die Hongkong-Chinesen darum, wer die Rechnung bezahlen darf. Deutsche teilen den Preis lieber gerecht auf.

Eines unserer Gemeindehighlights ist der Martinstag im November. Auf Dschunken fahren wir zu einer benachbarten Insel und feiern dort die ökumenische Sankt-Martins-Andacht in einem Trappistenkloster. Wir wandern bei angenehmen 24 Grad einen Küstenweg zum Strand, picknicken, und um 18 Uhr, wenn es dunkel wird, laufen die Kinder mit ihren Laternen und singen Martinslieder. Unterm nächtlichen Sternenhimmel fahren wir auf Dschunken wieder zurück. Mit etwas Glück sehen wir ein Feuerwerk, das von Disneyland zu uns herüberleuchtet.