Nicht mehr heimisch in der Welt

Vor 30 Jahren starb der Essayist und Auschwitz-Häftling Jean Améry

16. Oktober 2008


"Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten." So steht es auf der Gedenktafel zu lesen, die am Haupteingang des einstigen Frankfurter IG-Farben-Hauses an die Opfer des Konzentrationslagers Buna-Monawitz erinnert. Enthüllt wurde die Tafel am neuen Campus der Frankfurter Universität im Jahr 2001. KZ-Überlebende waren zu der Feier nicht geladen.

Das Zitat stammt von Jean Améry (1912-1978). Und er fügte hinzu: "Man soll und darf die Vergangenheit nicht 'auf sich beruhen lassen', weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwart werden könnte." Vor 30 Jahren, am 17. Oktober 1978, schied der Essayist und Auschwitz-Häftling nach langem Leiden aus dem Leben. Er war in den Nachkriegsjahrzehnten zur moralischen Instanz geworden.

Ob Schreiben nach Auschwitz möglich sei, darüber haben die Geistesgrößen im Nachkriegsdeutschland intensiv debattiert. Améry hatte damit keine Probleme: Schreiben war für den Humanisten ein Überlebensmittel. In den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war der Schriftsteller eine Autorität und galt als einer der bedeutendsten europäischen Intellektuellen. Seine Essays stehen in einer Reihe mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos.

Mit dem 1966 erschienenen Essayband "Jenseits von Schuld und Sühne", in dem er das Leiden der Naziopfer philosophisch deutet, wurde Améry einem breiten Publikum bekannt. In seinem authentischen Bericht "Die Tortur" beschreibt er eindringlich, zu welcher Barbarei das Terrorsystem der Nationalsozialisten fähig war: "Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt", markierte er eine Grenzlinie.

Geboren wurde Améry als Hans Mayer am 31. Oktober 1912 in Wien. Die Mutter war Jüdin, der Vater starb im Ersten Weltkrieg. Die Mutter erzog ihn im katholischen Glauben. Er wuchs im Salzburger Land auf und machte nach der Schule eine Buchhändlerlehre in Wien. Mit seinem Schulfreund Ernst Mayer, mit dem ihn eine lebenslange Korrespondenz verband, gab der Bewunderer von Thomas Mann 1934 die literarische Zeitschrift "Die Brücke" heraus. In jenen Jahren entstand sein erster Roman "Die Schiffbrüchigen", der allerdings erst 2007 veröffentlicht wurde.

Als im März 1938 nach dem Anschluss an Hitler-Deutschland in Österreich "ein durch Wochen dauerndes Fest der Deutschheit" gefeiert wurde, entschloss sich Améry zur Emigration. Mit seiner Frau wanderte er nach Belgien aus und landete in Antwerpen, wo es eine große jüdische Gemeinschaft gab.

Als "feindlicher Ausländer" wurde er dort 1940 festgenommen und im südfranzösischen Lager Gurs interniert. 1941 gelang ihm die Flucht. Zurück in Belgien schloss er sich einer Widerstandsgruppe an. Im Juli 1943 wurde Améry erneut verhaftet und im Hauptquartier der belgischen Gestapo, im Brüsseler Gefängnis Saint-Gilles, inhaftiert. Von dort verlegte man ihn in die Festung Breenbonk, wo er schwer gefoltert wurde. Später kam er in das Konzentrationslager Auschwitz, dann nach Buchenwald und Bergen-Belsen.

"Ich kam hier mit meinem gestreiften Häftlingsanzug an", erinnerte sich Améry, der die Häftlings-Nummer 172364 trug. Die britische Armee befreite ihn und 40.000 weitere KZ-Häftlinge schließlich in Bergen-Belsen, und er stand "mit 45 Kilogramm Lebensgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt", wie er es formulierte.

Améry kehrte nach Brüssel zurück, in das Land seiner Emigration. Das Erstaunen, "zu den Unter-Übermenschen zu gehören, die all das überstanden haben", bestimmte seine Existenz. Bekannt wurde Améry mit der Schrift "Hand an sich legen", die keineswegs als Gebrauchsanweisung zur Selbsttötung gedacht war. In diesem "Diskurs über den Freitod" bezeichnete er den Suizid als Menschenrecht, was vielfach so interpretiert wurde, dass er die Erfahrung des Holocaust nicht überwinden konnte. Solchen Deutungen entgegnet seine Biografin Irene Heidelberger-Leonard, dass nicht Auschwitz zu seinem Tod geführt habe, sondern die Nachkriegszeit.

Im Herbst 1978 war Améry auf einer ausgedehnten Lese-Tournee. Im "Österreichischen Hof" in Salzburg nahm er sich am 17. Oktober 1978 das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er an seine zweite Frau Maria: "Ich kann meinem Niedergang, intellektuellen, physischen, psychischen, nicht zusehen."

An der Fassade des Hauses in der Avenue Coghen in Brüssel, in dem Jean Améry 15 Jahre lang gewohnt hatte, ist 2006 eine Erinnerungsplakette angebracht worden. Doch "die Plakette verbirgt mehr, als sie enthüllt", urteilt Irene Heidelberger-Leonard: "Nichts gibt sie zu erkennen von den existenziellen Abgründen, die Amérys Leben und Tod, der ein freier war, geprägt haben."

Buchhinweise: Irene Heidelberger-Leonard: Jean Améry - Revolte in der Resignation - Biographie, 2., durchgesehene Aufl. 2005, 408 Seiten, 24 Euro. Neunbändige Jean Améry-Werkausgabe bei Klett-Cotta Stuttgart 2008 (epd/Clos)