Biete "Sputnik", suche "Kirche"

Vor 20 Jahren gingen junge Menschen in Ost-Berlin gegen die Zensur ihrer Kirchenzeitung auf die Straße

09. Oktober 2008


Viel zu feiern gab es im Grunde nicht, als sich die SED-Führung vor 20 Jahren anschickte, mit Militärparade und Volksfest den "Republikgeburtstag" zu begehen. Resignation und Ratlosigkeit lagen über dem Land, Tausende drängten gen Westen. Da tauchten im Ostteil Berlins hektographierte Flugblätter auf. "Fürchte dich nicht", stand darauf. Und neben dem biblischen Jesaja-Text war ein Aufruf zur Demonstration am 10. Oktober gegen die fortgesetzten Zensur-Eingriffe bei der kirchlichen Wochenzeitung "Die Kirche" zu lesen.

Das war im Herbst 1988 und die Friedliche Revolution ein Jahr später noch in weiter Ferne. Entsprechend gefährlich war denn auch der anonyme Aufruf. Denn jedem, der ein solches Blatt in die Hand bekam, war klar, dass er mit Besitz und Weitergabe seine Freiheit aufs Spiel setzte.

Rund 200 vorwiegend junge Leute waren dennoch der Aufforderung gefolgt. Trotz eines erschlagenden Aufgebots von Polizei und Staatssicherheit sowie mehreren Festnahmen noch vor dem Treffen war es ihnen gelungen, sich am Evangelischen Konsistorium, der kirchlichen Verwaltung in Berlin-Mitte, zu versammeln. "Für den Fall der Verhaftung hatten wir Knoblauch und Schokolade eingepackt. Ersteres war für die Vernehmungen gedacht, zweites als Proviant im Knast", erinnert sich Marianne Birthler, die heutige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen.

Kristian Liedemit, damals 21-jähriger Punk und heute Geschäftsführer eines kirchlichen Ausbildungsunternehmens in Berlin, hat noch genau das "zusammenklappbare Holzkreuz" vor Augen, das sein Freund Lorenz Postler auf der gemeinsamen U-Bahnfahrt unter dem Jackett trug, um nicht von Polizei oder Stasi-Mitarbeitern "weggeschnappt" zu werden. Abmarsch sollte nach einer Versammlung im Gemeindesaal sein. Doch der Demonstrationszug, der zum Staatlichen Presseamt führte, kam nur gut hundert Meter weit. Wie befürchtet, stellten sich die zahlreich eingesetzten Sicherheitskräfte mit Fahrzeugen in den Weg, drängten die jungen Leute zusammen und schlugen die ersten zu Boden.

Und dann geschah das Unglaubliche: Als der Berliner Sozialdiakon Mario Schatta zur Festnahme auf ein Polizeiauto verbracht wurde, stellten sich mehrere Dutzend der Demonstranten vor das zur Abfahrt bereite Fahrzeug und forderten lautstark: Entweder alle oder keiner.

Polizei und Stasi waren ratlos. Es vergingen zehn, zwanzig, vielleicht auch vierzig Minuten. Die Nerven lagen blank, zumal sich zu der Demonstration auch einige westliche Korrespondenten und zwei Kamerateams eingefunden hatten. "Dann nehmen wir eben alle mit", schrie plötzlich ein Offizier. Und noch bevor die Sicherheitskräfte richtig begriffen, was los war, kletterten gut 50 Demonstranten auf die bereitstehenden Mannschaftswagen. Mehr ging nicht.

Nach intensiven Verhandlungen der evangelischen Kirche mit den Verantwortlichen der SED und durch den massiven öffentlichen Druck über die westlichen Medien kamen in den Tagen danach alle Demonstranten wieder frei. Die Wirkung ihrer Proteste sollte jedoch anhalten. Was von der SED immer wieder bestritten wurde, war zum öffentlichen Gespräch geworden, an dem sich später sogar - sehr zum Ärger der SED-Führung - der Deutsche Bundestag mit einer Aktuellen Stunde in Bonn beteiligte.

Auch dabei kam noch einmal zur Sprache, wie massiv die Kirchenblätter in der DDR unter dem Zensurdruck litten, allen voran das Ost-Berliner Blatt "Die Kirche". Es durfte im Jahr 1988 mit fünf Ausgaben gar nicht und den meisten anderen erst nach Zensureingriffen erscheinen. Einmal war es der Redaktion sogar gelungen, zensierte Stellen durch weiße Flecken kenntlich zu machen, später setzte sie hin und wieder Fluchpsalmen an die Stelle, an denen Beiträge gestrichen worden waren.

Zur Geschichte der Zensur gehört aber auch der Mut vieler anderer Leser, die sich bei ihrem Protest immer häufiger auf die Forderung von "Glasnost" und "Perestroika" beriefen oder sich mit feinsinniger Ironie einbrachten. So war damals zum Beispiel auf der Anzeigenseite einer SED-Tageszeitung zu lesen: Biete "Sputnik", suche "Die Kirche Nr. 26/1988". Denn die sowjetische Zeitschrift "Sputnik" war verboten und die fragliche Ausgabe der "Kirche" der Zensur zum Opfer gefallen. (epd)

Evangelische Wochenzeitung "die Kirche"