"Chak de India!" - Vorwärts, Indien!

Joachim von Kölichen ist Pfarrer in Delhi

07. Oktober 2008


"Chak de India!", feuern die Zuschauer ihre Nationalmannschaft an: Vorwärts, Indien! "Chak de! India" heißt auch ein erfolgreicher Film mit Bollywoodstar Shah Rukh Khan. Der Schlachtruf beschreibt das Lebensgefühl hier sehr gut. Die aufgeregten heimischen Medien greifen es auf. Auch der Rest der Welt scheint den Subkontinent so wahrzunehmen. Indien ist sexy! Unternehmer, Politiker und Touristen strömen. Selbst der FC Bayern München ließ es sich nicht nehmen, Oliver Kahn auf Abschiedstour ins zweitgrößte Stadion der Welt nach Kalkutta zu schicken.

Im besagten Film spielt Shah Rukh Khan einen ehemaligen Hockeystar. Wegen eines verschossenen Strafstoßes ist er schmachvoll aus dem Nationalteam entlassen worden. Nun übernimmt er das Training der nationalen Damenriege, er bereitet sie auf die Weltmeisterschaften vor. Die jungen Spielerinnen sind egozentrisch, teils zickig. Shah Rukh Khan soll aus ihnen ein Team mit einer Mission formen. Überflüssig zu sagen, dass ihm dies gelingt. Aber Bollywoodfans, aufgepasst: Es wird nicht getanzt. Und keine der Frauen bekommt ihn, den Star.

Der Film soll unterhalten, und er hat pädagogische Obertöne. Teamgeist geht über Eigeninteresse! Man soll zuerst Inder sein und erst dann die regionale, soziale oder kulturelle Zugehörigkeit zeigen! Denn dies ist Indiens Hauptproblem: Der Einzelne verhält sich seiner Familie, seiner Kaste, seiner Berufs- oder Einkommensgruppe gegenüber vollkommen loyal. Aber nur wenig hält Indien als Staat zusammen - das nationale Cricketteam etwa oder Bollywoodstars wie Shah Rukh Khan.

Die Botschaften aus dem Film klingen für europäische Ohren nicht anders als für die eines deutschen Pfarrers, laut und platt. Auch der indische Triumphalismus und die leise Verachtung des Westens erscheinen Menschen aus dem alten Europa befremdlich. Aber "Chak de! India" ist ein schönes Exempel für das Selbstbild eines Landes, das sich in relativ kurzer Zeit vom bemitleideten Armenhaus zum bewunderten IT-Paradies, begehrten Absatzmarkt und gefürchteten Konkurrenten aufgeschwungen hat. Doch die Wirklichkeit ist differenzierter. Für wenige geht es sehr schnell vorwärts, für viele sehr langsam, und noch viel mehr spüren die Veränderungen lediglich als Erschütterungen. Trotz aller Technikhypes und aller Indomanie müssen 70 Prozent der Bevölkerung mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen, die Hälfte davon gar mit weniger als einem Dollar. Laut UN-Statistik geht es den Frauen in einigen Bundesstaaten schlechter als in Afghanistan. Ehrenmorde gibt es auch in oberen Schichten und in Großstädten - an Töchtern und Schwestern, die sich in den falschen Mann verlieben. Die Angestellten in europäischen und amerikanischen Haushalten sind privilegiert mit ihren 120 Euro Lohn und einem freien Tag in der Woche.

Gegenüber den vergangenen achtzehn Jahren, die die wirtschaftliche Umwälzung inzwischen dauert, erscheint die deutschsprachige Gemeinde fast schon alt. Bereits vor 50 Jahren waren deutsche Ingenieure und Arbeiter ins Land gekommen, um ein Stahlwerk in Ostindien zu bauen. Die beiden großen Kirchen schickten damals Seelsorger hinterher. Als das Stahlwerk fertig war, verlagerte sich die Gemeindearbeit in die Landeshauptstadt Delhi. Heute gehören ferner Kolkata (Kalkutta), Kathmandu (in Nepal), Dhaka (in Bangladesch) und seit zwei Jahren auch Mumbai (Bombay) zur Gemeinde.

Die meisten Gemeindeglieder in Botschaft, Unternehmen und Schule leben privilegiert - und ein wenig auf Abruf. Für sie sind Gottesdienst, Konfirmandenunterricht, Frauenkreis und Jugendgruppe ein Stück Heimat. Ein bedeutender Teil der Gemeinde ist mit Indern verheiratet. Für sie ist Deutschland eher zur Fremde geworden. Andere sind in Hilfsprojekten engagiert, oft ehrenamtlich und unter sehr einfachen Bedingungen.

Quasi aus dem Nichts hat Marianne Grosspietsch mit Freunden 1992 das Shanti Lepraprojekt in Kathmandu geschaffen. Sie lebt heute teils in Dortmund, teils in Nepal. Mittlerweile hat Shanti 34 Mitarbeiter in Kathmandu und in der ambulanten Krankenstation Buddhanilkanta. Jeden Tag kommen etwa 100 arme Patienten, vor allem Leprakranke, aus allen Teilen des Landes zur kostenlosen medizinischen Betreuung. Im angeschlossenen Hospiz werden Sterbende liebevoll begleitet.

Auch mit den "Sunshine Kids" in Delhi fühlt sich die Gemeinde verbunden. Der Schneider Kuku Arora holte Kinder von der Straße in seine Werkstatt, um sie zu betreuen, mit Nachhilfe auf die Schule vorzubereiten und sie dann durch die Schulzeit zu begleiten. Die mittlerweile 93 Kinder und Jugendlichen sitzen im vergleichsweise kleinen Raum beieinander, sieben angestellte Lehrer geben ihnen Aufgaben. Jeder Stoß neuer Hefte wird als Geschenk bejubelt. "Chak de" (vorwärts) kommt nur, wer Zugang zu Bildung hat. Nicht einfach in diesem Land, trotz der weltweit bewunderten Bildungs- und Forschungseinrichtungen.

"Alles, was man über Indien sagt, ist richtig. Und das Gegenteil auch." Das Zitat wird Jawaharlal Nehru, dem ersten Ministerpräsidenten Indiens, zugeschrieben. Es darf in fast keiner Rede vor Ausländern fehlen. Ähnliches gilt für die Gemeindearbeit. Man hat dieselben Freuden und Sorgen wie in einem bayerischen Dorf. Und doch ist hier alles anders. Wir Christen wollen die Liebe Gottes fröhlich bezeugen - in einem Land, das neben viel Licht auch so viel Schatten zeigt, dass dies manchmal sehr schwerfällt. Oft suchen Gemeindemitglieder - aber auch andere - das seelsorgliche Gespräch, um schockierende Erlebnisse zu verarbeiten. Die Gemeinde bietet eine Rückzugsmöglichkeit und zugleich einen Rückhalt, sich den zahlreichen Widersprüchen zu stellen.

Indien hat eine reiche christliche Tradition. Die Thomaschristen führen sich auf eine Gründung des Apostels Thomas zurück. Sie erkennen den Papst an, bleiben rechtlich aber eigenständig. Die insgesamt 26 Millionen evangelischen und katholischen Christen sind in dem 1,12-Milliarden-Volk zwar eine verschwindend kleine Minderheit, aber sehr gut sichtbar. Im Gesundheits- und Erziehungswesen sind sie überdurchschnittlich stark vertreten.

In den großen Zentren funktioniert das Zusammenleben der Religionen meist sehr friedlich und problemlos, es ist allerdings mehr ein Neben- als ein Miteinander. Dagegen entlädt sich die Aggression in ländlichen Gebieten der nordöstlichen Bundesländer bisweilen mit brutaler Gewalt. Erst kürzlich kamen in Orissa mehrere Christen zu Tode, denen man den Mord an einem Hinduführer zur Last gelegt hatte. Wahrscheinlich war er einem Anschlag maoistischer Naxaliten zum Opfer gefallen, einer sogenannten Befreiungsbewegung, die ganze Landstriche zu No-Go-Areas für die Polizei und Streitkräfte macht.

Unter solchen Bedingungen relativieren sich manche konfessionellen Gegensätze, die in Deutschland vielleicht wichtig erscheinen. Viele Familien hierzulande sind konfessionsverschieden. Folglich feiern wir mit der deutschsprachigen katholischen Gemeinde regelmäßig ökumenische Gottesdienste und kooperieren eng in der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit. Eine Besonderheit sind die "Unity Suppers", die ein englisches Gemeindeglied bei uns eingeführt hat. Eine der Gemeinden bereitet Vor- und Nachspeisen zu, die andere die Hauptspeisen. Meistens kommt dabei ein hervorragendes Menü heraus. Wir knüpfen Kontakt zu Menschen, die neu in Delhi sind. Hier entstehen auch neue Ideen. Wir diskutieren über die Theologie der James-Bond-Filme, erwägen, einen Männerkochkurs oder einen Gesprächskreis zu gründen, beschließen, ein AIDS-Projekt zu unterstützen. Die geselligen Essensgespräche sind für uns alle immer ein "Chak de" - ein Erlebnis, das uns vorwärtsbringt.