Delegationsreise nach Bolivien, 8. – 13. August 2008

Warum zwei deutsche Pfarrer das Referendum in Bolivien beobachten

25. September 2008


Bei einem Treffen des bolivianischen Botschafters Walter Magne Veliz am 2.7.2008 mit Vertretern des Kirchenamtes der EKD und des eed in Berlin, brachte der lateinamerikanische Diplomat den Wunsch zum Ausdruck, eine stärkere Aufmerksamkeit für sein Land von Seiten der evangelischen Kirchen in Deutschland zu erfahren. In Entsprechung dieses Anliegens kam man überein, eine Delegation von Kirchenvertretern zusammenzustellen, um das in Bolivien anstehende „Abwahl-Referendum“ am 10.8.08 vor Ort zu begleiten.

Da in Lateinamerika in der Zwischenzeit derselbe Wunsch auch an den Lateinamerikanischen Kirchenrat (CLAI) herangetragen worden war, entschied man sich, eine gemeinsame Delegation zusammenzustellen, zu der unter anderen der Generalsekretär des CLAI, Pastor Nilton Giese, und Bischof Pagura  für den ÖRK gehören sollten. Für den deutschen Teil der Delegation fuhren die Pfarrer Reinhard Hauff (Stuttgart) als Vertreter des eed und René Lammer (Hannover) für die Hauptabteilung IV des Kirchenamtes der EKD nach La Paz.

Neben der unmittelbaren Referendumsbeobachtung und  der Begleitung der partnerschaftlich verbundenen evangelischen Kirchen in dieser kritischen Phase gesellschaftlicher Auseinandersetzungen stand der Besuch entwicklungsbezogener Projekte und  ein Austausch mit der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in La Paz auf der Reiseagenda. Ein vorrangiges Ziel der Reise bestand darin, ein Treffen mit der katholischen Bischofskonferenz  zu ermöglichen und im Anschluss daran ein ökumenisches
Hirtenwort zur gegenwärtigen Lage in Bolivien zu verfassen.

Zur Begegnung mit Vertretern der deutschsprachigen Gemeinde (Iglesia Evangélica Luterana de Habla Alemana) kam es gleich am ersten Tag. Zurzeit versieht Pastor von Wangelin aus Bremen dort einen einjährigen Vertretungsdienst, nachdem der letzte durch die EKD entsandte Pfarrer 2007 von seinem Dienst nach Deutschland zurückgekehrt ist. Pfarrer von Wangelin kümmert sich sehr engagiert und erfolgreich um die deutschsprachige Gemeinde, aber es ist ihm und allen anderen Beteiligten auch bewusst, dass seine Möglichkeiten aufgrund des zeitlich befristeten Einsatzes begrenzt sind. Dies gilt sowohl hinsichtlich des notwendigen Gemeindeaufbaues als auch bezüglich seiner Teilnahme am ökumenischen Dialog. Da beides aber erwünscht und notwendig ist, wurde sowohl von den deutschen Delegationsteilnehmern als auch von der Gemeindeleitung  festgestellt, dass es wieder so früh wie möglich im Jahr 2009 zu einer regulären Besetzung der Pfarrstelle mit einem EKD entsandten Pfarrer/in über sechs bzw. neun Jahre kommen solle.

In der deutschsprachigen Gemeinde La Paz ist hinsichtlich der sozialen und politischen Lage des Landes ein durchaus zwiespältiges Verhältnis wahrzunehmen. Zum einen wird die Notwendigkeit und das Recht zu einem Wechsel hin zu einer stärkeren Beteiligung der indigenen Völker am gesellschaftlichen Leben durchaus gesehen. Auch hält man Evo Morales für den einzigen Politiker der derzeit das Land vor chaotischen Zuständen bewahren könne, da in der Opposition kaum kompetente und konsensfähige Personen  zu erkennen seien. Zum anderen wird aber auch sehr kritisch bemerkt, dass sich die Spaltung des Landes enorm vertieft habe. Zudem herrsche in Teilen der Bevölkerung Angst und Verunsicherung, die Verfassungsorgane könnten nicht mehr ihre Arbeit verrichten und  auch das Klima für ausländische Investitionen habe sich rapide verschlechtert. Von der CLAI Delegation befürchten einige Mitglieder der Gemeinde, sie ließe sich unbedarft für die Interessen der Regierung instrumentalisieren.
 Im Zusammenhang der Begegnung mit der deutschsprachigen Gemeinde ist auch der Besuch des deutschen Teiles der Delegation beim Botschafter Erich Riedel zu nennen. Der deutsche Diplomat führte kenntnisreich in die gegenwärtige Situation Boliviens ein und bewertete den Ausgang des Abwahl-Referendums eher kritisch. Die klaren Zugewinne der Regierung aber auch die deutliche Bestätigung der meisten oppositionellen Präfekten würden so wohl zu einer weiteren Polarisierung des Landes beitragen. Wichtig wäre es aber, dass es nun zur Aufnahme eines substantiellen Dialoges zwischen der Opposition im Osten und der Regierung im Westen des Landes käme. Ein Versuch von Seiten der Vertreter der EU Länder hier zu vermitteln, sei leider nicht erfolgreich verlaufen. Auch die katholische Kirche könne sich schwer noch als Vermittlerin anbieten, da verschiedene Vertreter sich zu eindeutig auf die eine oder andere politische Position festgelegt hätten. Eine ökumenische Initiative diesbezüglich  könne sinnvoll und erfolgversprechend sein, zumal sonst kaum ein anderer Akteur zur Mediation erkennbar sei.


Besuch verschiedener Wahllokale in kleinen Teams und Beobachtung des Referendums am 10. 8. 2008

Die ökumenische Delegation besuchte in Teams von drei bis vier Personen (mit jeweils mindestens einer Person aus den Kirchen Boliviens)  verschiedene Wahllokale, sprach mit den Menschen vor und in den Wahllokalen sowie mit Vertretern der Polizei und mit Kommunalpolitikern. Der allgemeine Eindruck war durchgängig: Eine gut organisierte Volksabstimmung in ruhiger und entspannter Atmosphäre, die den Regeln einer allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahl entspricht. Teilweise fanden kleine Straßenfeste vor den Wahllokalen statt. Pointierte Äußerung eines alten Mannes vor einem Wahllokal in La Paz: „Entweder sie (Regierung und Opposition) einigen sich, oder sie sollen zum Teufel gehen.“

Vereinzelt gab es organisatorische Probleme, so waren einige Stimmberechtigte nicht in die Wählerlisten eingetragen und konnten nicht abstimmen, etliche hatten sich zwei Personalausweise „besorgt“ und konnten – jedenfalls theoretisch (es galt an diesem Tag landesweit ein Fahrverbot) – zwei Mal abstimmen. Dies kann jedoch kaum zu einer signifikanten Beeinflussung des Ergebnisses geführt haben. Auch andere Beobachtergruppen konnten keine systematischen Unregelmäßigkeiten feststellen, das Ergebnis des Referendums wurde im Grunde von niemandem ernsthaft infrage gestellt..

Abends wird im Fernsehen von teils sehr aggressiven Kundgebungen der Opposition im Osten des Landes (u.a. in Santa Cruz) berichtet. Diese steigerten sich in den Wochen nach dem Referendum bekanntlich zu teils gewalttätigen Ausschreitungen. Im Gegensatz dazu waren die Reaktionen der Regierung und des Präsidenten moderat (vielen AnhängerInnen der Regierung zu moderat) und Morales signalisierte der Opposition Verhandlungsbereitschaft.


Auswertung und weitere Schritte der CLAI Delegation

Der oben dargestellte Gesamteindruck vom Verlauf des Referendums wurde auch von anderen Beobachtergruppen (bspw. der Vereinten Nationen) bestätigt. Insofern an der Korrektheit des Ergebnisses des Referendums nicht gezweifelt wurde, blieb die Frage, wie die Spaltung des Landes sowie die aggressive Stimmung zwischen Regierung und Opposition überwunden werden könnte. Dazu wurde von der internationalen Besucherdelegation unter der Leitung des CLAI unter anderem ein gemeinsamer Brief (Carta Pastoral) an die Menschen in Bolivien verfasst, der hier dokumentiert ist.

Eine wesentliche Voraussetzung für weitere Schritte schien uns eine enge Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche. Hierfür wurden einige Vorschläge gemacht, die am folgenden Tag mit Vertretern der Bischofskonferenz diskutiert wurden.


Treffen mit Vertretern der  Bolivianischen Bischofskonferenz am 11. 8. 08

An diesem Treffen nahmen neben der Delegation des CLAI Bischof Abastoflor von La Paz, Jesús Júarez, der Generalsekretär der Bischofskonferenz und Bischof von El Alto, (sie haben beide in Deutschland studiert), Michael Meyer Hildesheim/La Paz (Referent für die Partnerschaften zwischen Trier, Hildesheim und La Paz), sowie der Ökumenereferent der Bischofskonferenz teil.

Abastoflor wies auf die tiefe Spaltung des Landes hin. Es sei eine Spaltung in Arm und Reich, Orient und Okzident, Indigenas und Weiße. Die Notwendigkeit zu Veränderungen sei auch von der katholischen Kirche anerkannt (Necesidad del cambio). Es habe allerdings Versuche seitens der Regierung gegeben, die katholische Kirche zu instrumentalisieren. Nachdem die katholische Kirche ihre  Eigenständigkeit betont habe, sei sie dann aber zunehmend von der Morales Administration ignoriert worden. Die Regierung habe sich daraufhin verstärkt und wie es scheine erfolgreich um eine Zusammenarbeit mit evangelischen Kirchen, allen voran der methodistischen Kirche bemüht.

Es gibt bereits einen „Runden Tisch Ökumene und interreligiöser Dialog“, an dem gemeinsame Anliegen und Themen besprochen werden. Bischof Abastoflor schlug vor, eine gemeinsame Erklärung zur politischen Lage ökumenisch zu verfassen. Auch der Vorschlag aus der CLAI-Delegation, durch die Kirchen einen Mediationsprozess zwischen Regierung und Opposition zu initiieren und zu begleiten, wurde positiv aufgenommen. Dazu sollten zunächst je zwei Geistliche von CLAI (Vorschlag: Bischof Pagura für den ÖRK und der anglikanische Bischof Murray, Panama) und zwei Geistliche der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM) benannt werden, die als Mediatoren für alle Seiten akzeptabel sind.

Parallel sollen für Mitglieder aller Kirchen drei Workshops/Talleres möglichst in Santa Cruz, Sucre, Cochabamba zu ziviler Konfliktbearbeitung und Mediation durchgeführt
werden.

Die Mediatorengruppe aus CLAI und CELAM könnte zunächst getrennte Gespräche mit Regierung und Opposition führen, u.a. um die Konfliktpunkte möglichst präzise zu benennen und deren Bearbeitung vorzubereiten. Die Beratungen hierüber sind im Gange.  Bischof Juárez betont allerdings, dass die katholische Kirche nicht als „Mediator“, sondern lediglich als „Facilitator“ zur Verfügung stände. Eine präzise Begriffsklärung wird nicht vorgenommen.


Gespräch in der Fundación Tierra mit Direktor Miguel Urioste 

Diese Stiftung hat die Arbeitsschwerpunkte Forschung, Publikation und Beratung mit dem Ziel der Verbesserung der Lebens-, Arbeits-, und Einkommensbedingungen der ländlichen Bevölkerung.

Die Sozialausgaben der Regierung werden sehr positiv eingeschätzt, es gebe aber kritische Aspekte wie etwa die Maßnahme der „1000 Traktoren“ für Bauern, die von der Regierung relativ planlos und assistentialistisch verteilt worden seien.

Mit der geplanten Straße nach Brasilien sei eine Aufwertung des Landes und weitere landwirtschaftliche Erschließung im Ostteil Boliviens verbunden. Soja werde zu Agrosprit verarbeitet, weswegen es neue Landkonflikte gebe, obwohl genug Land da sei. Der Staat solle die Industrialisierung vorantreiben, insbesondere Kleinbetriebe. Die Planung der Regierung sehe die Weiterverarbeitung von ÖL und Gas im Land, aber auch die Schaffung neuer Unternehmen etwa in der Milchwirtschaft vor.
Manche NGOs, auch von Deutschland geförderte, schüren eher den Konflikt. Sie verkaufen ihre Projekte aber anders. Protestantische Kirchen könnten eine zentrale Rolle bei der Vermittlung zwischen den Konfliktparteien spielen.


SARTAWI – ein „lutherisches“ Programm

Am 12. 8. 08 unternehmen wir eine Exkursion zu Projekten von SARTAWI, dem Sozialwerk der deutschen evangelischen Gemeinde, mit der Leiterin Lic. Patricia Morales und Vorstandsmitglied Claudia Kuruner. Diese Organisation leistet eine außerordentlich beeindruckende Gemeinwesenentwicklung im ländlichen Bereich des Andenhochlandes (Altiplano). In 4300 bis 4600 m Höhe besuchen wir in teils sehr abgelegenen Landstrichen Projekte zur Wassergewinnung/Bewässerung, Diversifizierung der Landwirtschaft, Milchverarbeitung (Käse und Joghurt), Aufforstung, Viehhaltung (Kühe), Brunnen- und Hausbau sowie Beratung speziell für Frauen. SARTAWI bietet nur jenen Gemeinden Unterstützung, die zur intensiven Mitarbeit bereit sind. Die eingesetzte Technologie ist durchweg kontextgerecht (wartungs- und reparaturfreundlich) und ressourcenschonend (z.B. von Hand zu bedienende Wasserpumpen).

Ein Treffen mit einem Vertreter der größten Oppositionspartei PODEMOS kommt nicht zustande, da der Gesprächspartner unerklärt nicht erscheint.

Schließlich findet noch eine Begegnung mit VertreterInnen der Lutherischen Kirche Boliviens statt. Es werden Projekte und Initiativen verschiedener Arbeitsbereiche (theol. Ausbildung, Frauenarbeit, soziale Projekte), vorgestellt und die Bitte um personelle und finanzielle Unterstützung geäußert. Wir versprechen, diese Bitten bei vorliegenden Projektanträgen sorgfältig zu prüfen und ggf. an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten.

Nach der Rückkehr bleibt der Eindruck eines in vieler Hinsicht faszinierenden und an Ressourcen reichen Landes in dem der Sprengstoff tiefer sozialer Spaltung ebenso vorhanden ist wie das Potenzial zukunftsweisender sozialökonomischer Modelle und Wege.


Pfarrer Reinhard Hauff, Stuttgart
Pastor René Lammer, Hannover