Eine deutsche Gemeinde, prachtvolle Hochzeiten und bitterarme Indianer

Luise Stribrny de Estrada ist Pfarrerin in Mexiko Stadt

08. September 2008


Auf der Autobahn von Oaxaca nach Puebla war ein Bus mit einer deutschen Reisegruppe verunglückt. Der Fahrer war nach langer Fahrt eingeschlafen. Viel zu spät hatte er erkannt, dass ihm ein Lastwagen entgegenkam. Im letzten Augenblick riss er das Lenkrad herum. Der Bus kippte einen Abhang hinab. Es gab drei Tote. Einige Passagiere wurden aus dem Bus geschleudert. Eine Frau prallte mit dem Kopf auf einen Stein und war sofort tot.

Die deutsche Botschaft benachrichtigte mich. Gemeinsam mit dem deutschen katholischen Pfarrer machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus in Puebla. Viele der Verletzten hatten bereits Kontakt mit ihren Familien in Deutschland aufgenommen. Da sie kein Spanisch sprachen, fühlten sie sich im Krankenhaus unsicher, den Ärzten ausgeliefert. Sie waren erleichtert, dass sie schon bald nach Hause fliegen würden.

Wir sprachen auch mit den leicht und gar nicht Verletzten und baten sie, vom Unfall zu erzählen. So konnten sie sich von der Seele reden, was sie erlebt hatten. Insgesamt waren es 43, nicht alle kannten sich besonders gut. Erst beim Sprechen klärte sich für einige, wer den Unfall nicht überlebt hatte. Sie trugen zusammen, was sie in den vergangenen Tagen voneinander erfahren haben. Auch das gehört zur Trauerarbeit. Am Ende reichten wir einander die Hände und sprachen das Vaterunser. Mitten in der Nacht kehrten der katholische Pfarrer und ich müde die gut 120 Kilometer nach Mexiko-Stadt zurück.

Seit sieben Jahren bin ich Pastorin der "Iglesia Evangélica Luterana de Habla Alemana en México", der Lutherischen Kirche deutscher Sprache in Mexiko. Mit meinem mexikanischen Mann Marco kam ich Ende Juli 2001 hierher. Bis 2007 stand ich als Auslandspfarrerin im Dienst der Evangelischen Kirche in Deutschland. Dann hat mich die Gemeinde angestellt. Mein Mann arbeitet hier als Universitätsprofessor, wir wollen in seinem Heimatland bleiben. Unser Sohn Emiliano wurde hier vorletztes Jahr geboren.

Das Einzugsgebiet unserer Gemeinde erstreckt sich von Monterrey im Nordosten an der Grenze zu den USA bis nach Tapachula an der guatemaltekischen Grenze. Das Land ist fünfmal so groß wie die Bundesrepublik, aber verkehrsmäßig schlechter erschlossen. Mit mir tauft, konfirmiert, traut und beerdigt ein weiterer Pfarrer die ungefähr 2000 evangelischen deutschsprachigen Christen und Christinnen, die über ganz Mexiko verteilt leben. Wir haben sogenannte Filialgemeinden in zehn Städten des Landesinneren. Wenn uns die Anglikaner oder andere ihre Kirchen nicht leihen, halten wir unsere Gottesdienste in Privathäusern oder unter freiem Himmel.

Unterwegs sind wir per Auto, Bus oder Flugzeug. Die Überlandbusse sind modern, sie fahren pünktlich und meist nicht schneller als erlaubt: 95 Stundenkilometer. Jetzt, in der Regenzeit, haben die Straßen allerdings tiefe Schlaglöcher. Die Fahrer versuchen, sie zu umfahren, um eine Reifenpanne zu vermeiden. Auf der Autobahn kann es passieren, dass ein Esel seelenruhig auf der Fahrbahn steht und die Autos ihm ausweichen. Oder jemand rennt quer über die Autobahn, weil es in der Nähe keine Fußgängerbrücke gibt.

Hochzeiten feiert man hier in großem Stil, oft mit 300 Gästen. Bei einer Trauung am Strand von Acapulco blickte die Festgemeinde auf das Meer. Das hohe Kreuz neben dem Altar war ganz aus Blumen geflochten. Den Gottesdienst hielt ich größtenteils auf Spanisch. Die Braut erschien in einem hinreißenden weißen Brautkleid. Der Bräutigam trug eine Guayabera, ein besticktes kurzärmliges Hemd, die offizielle Festkleidung in den Tropen. Während die Sonne im Meer versank, gaben sich die beiden ihr Jawort. Beim festlichen Bankett war das Buffet mit Früchten und Blumen wunderschön dekoriert. Ein anderes Mal entzündete die Hochzeitsgesellschaft um Mitternacht zu Ehren des Brautpaares ein Feuerwerk. Über dem dunklen Meer explodierten in allen Farben Blumen aus Feuer. Die Gäste waren begeistert.

In Mexiko-Stadt drängt sich fast ein Viertel der über 100 Millionen Einwohner Mexikos, mehr als 20 Millionen Menschen. Niemand weiß die genaue Zahl, mit Tokio streitet sich Mexiko-Stadt um den Titel der weltweit größten Metropole. Die meisten unserer Gemeindemitglieder wohnen hier, viele von ihnen - wie auch wir - im Norden der Stadt, 18 Kilometer von unserer Kirche entfernt, wo die deutsche Humboldt-Schule eine Niederlassung hat.

Die Wurzeln unserer Gemeinde reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Im Jahr 1861 wurde erstmals eine deutschsprachige evangelische Gemeinde erwähnt: Die Protestanten erhielten damals die Seitenkapelle einer Klosterkirche zur Verfügung gestellt. Seit 1927 gibt es ununterbrochen einen deutschen evangelischen Pfarrer in Mexiko. Pfingsten 1958 weihte die Gemeinde schließlich ihre eigene Heiliggeistkirche ein. In diesem Jahr feierten wir zu Pfingsten ihren fünfzigsten Geburtstag.

Heute besteht unsere Gemeinde überwiegend aus Deutsch-Mexikanern, deren Vorfahren nach Mexiko eingewandert sind. Sie sprechen Spanisch so gut wie Deutsch. Vielen ist es wichtig, ihre deutsche Identität an ihre Kinder weiterzugeben. Doch die fühlen sich meist zuerst als Mexikaner und heiraten einen Einheimischen. Da rund 88 Prozent der Mexikaner katholisch sind, hält sich dann oft die ganze Familie zur katholischen Kirche - und wir verlieren ein Gemeindemitglied.

Außer den Deutsch-Mexikanern gibt es in unserer Gemeinde sogenannte Expatriates, Angestellte von Beiersdorf, Volkswagen und anderen Firmen, die für einige Zeit nach Mexiko entsendet werden. 20 bis 30 Deutsche besuchen an regulären Sonntagen unseren Gottesdienst. Das gemeinsame Kaffeetrinken danach ist für sie ein wichtiges Treffen. Zu unseren Gemeindefesten zu Pfingsten und Erntedank kommen 200 bis 300 Leute, an Heiligabend sind es noch mehr.

Für Gemeindemitglieder mit mexikanischem Ehepartner ohne Deutschkenntnisse feiern wir am letzten Sonntag im Monat einen spanischen Gottesdienst. Ebenso für frühere Katholiken, die sich von unserer Gemeinde angezogen fühlen. Vieles ist für sie ähnlich wie bei katholischen Gottesdiensten, sie schätzen aber unsere Weltoffenheit und dass wir eine zeitgemäße Sprache sprechen. Besonders überrascht es die Neuen unter ihnen, dass eine Frau anstelle eines Padre den Gottesdienst leitet. Nach dem Gottesdienst höre ich oft, es wäre doch schön, wenn ordinierte Pfarrerinnen auch in der katholischen Kirche tätig wären.

Bei seinen Forschungen über die sogenannten Zapatisten, die Guerilla in Chiapas, hat mein Mann verschiedene indianische Dörfer und ihre Bewohner kennengelernt. Viele von ihnen leben in großer Armut im Inneren des Lakandonischen Urwalds. Ihr Lebenstraum ist es, ihren Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Auch wollen sie sie im Notfall schnell zum Arzt bringen können, nicht zwölf Stunden unterwegs sein. Viele der Männer verdingen sich in Mexiko-Stadt. Einer erzählte, dass er sich verschuldet hat, als seine Tochter schwer krank wurde und ins Krankenhaus musste. Hier arbeitet er als ungelernter Maurer auf dem Bau und hilft, dreißigstöckige Hochhäuser entlang der Autobahn zu errichten. Sein miserabler Tageslohn ist immer noch höher, als was er in Chiapas in einer Woche verdienen würde.

Demnächst bekommen wir Besuch aus Deutschland. Eine Gemeinde möchte in Mexiko ein Sozialprojekt unterstützen. Mein Mann wird sie nach Chiapas führen. Wir wünschen uns, dass sie sich dort für die Menschen engagieren. Unsere deutschsprachige Gemeinde in Mexiko könnte helfen, den guten Willen in konkrete Hilfe umzusetzen. Wir hoffen sehr, dass dies gelingt.