Einkehr und Meditation zu ungewöhnlicher Stunde

Lange Kirchennächte werden immer beliebter

11. August 2008


Die Kirche ist dunkel. Nur die annähernd hundert Kerzen auf den Stufen zum Altar erleuchten das Hauptschiff. Das Auge braucht Zeit, um sich an die Dunkelheit und den matten Kerzenschein zu gewöhnen. Anna-Lena hockt sich vor die unterste Stufe, biegt den Docht zurecht und entzündet eine weitere Kerze. Für einen Moment betrachtet die 17-Jährige das Lichtermeer, dann dreht sie sich um und setzt sich in die Bank zu ihrer Freundin. Es bleibt ruhig beim so genannten „Nightfever“, zu dem eine Kirchengemeinde in der Trierer Altstadt vierteljährlich zu nächtlicher Stunde einlädt. Es ist die Zeit, in der viele Menschen eher in der Disco oder in Partykneipen lautstarke Musik hören – oder zu Hause vor dem Fernseher langsam weg schlummern. Wenn diese Zeit auch dem schrillen Beat, den harten Rhythmen, dem neu erstarkten deutschen Schlager und auch den unerträglichen stupiden Ballermann-Hits gehört, werden solche Gelegenheiten zu meditativer und spiritueller Einkehr in den Abend- und Nachtstunden immer beliebter.

Sie heißen "Lange Nächte der offenen Kirchen", "Liturgische Nächte" oder auch "Nachtschichten". Im Spätsommer laden wieder viele Kirchen besonders in den Innenstädten ein zum nächtlichen Kirchgang, etwa in Frankfurt, Hannover, Bremen und Würzburg. Oft gibt es dabei ein reichhaltiges kulturelles Programm: Ausstellungen, Konzerte, Andachten, Lesungen und Kirchturmbesteigungen. Beim Trierer "Nightfever" singt in einem Seitenschiff ein kleiner Chor Gospelmusik, in einem abgetrennten Bereich neben der Kirche bieten Geistliche Seelsorgegespräche an. Die Passanten kommen, zünden eine Kerze an, sitzen, lauschen der Musik, und gehen wieder. Es kommen viele, vor allem Jüngere.

Der nächtliche Kirchenraum übt eine besondere Faszination aus, weiß Landesbischöfin Margot Käßmann aus Hannover: „Eine Kirche ist nicht irgendein Ort, ihr ist abzuspüren, dass dort Menschen seit Jahren und Jahrhunderten beten, Gottes Wort hören, singen. Das wird zu so besonderen Zeiten noch einmal auf ganz eigene Weise erlebbar.“ In Hannover findet alle zwei Jahre eine große Nacht der Kirchen statt, in diesem Jahr Anfang September in über 30 Gotteshäusern.

Die Verantwortlichen sehen darin eine Chance für die Kirche, die aus dem Rahmen fällt. Die Nacht der Kirchen erreiche Menschen, denen die Schwelle an der Kirchentür zum normalen Sonntagsgottesdienst zu hoch sei. "Der Eventcharakter kann den Zugang erleichtern, und ich bin überzeugt, dass der Kirchenraum selbst dann durchaus auch predigt," weiß die Hannoveraner Bischöfin. Und der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, erinnert an den 74. Psalm: „Dein ist der Tag und dein ist die Nacht.“ Gott ist nicht nur zu festgelegten Zeiten zu erreichen – so dürfen die Gotteshäuser auch zu ungewohnten Zeiten geöffnet sein: „Geöffnete Kirchen wirken anziehend – auf Gemeindeglieder, aber auch auf Menschen, die lange nicht mehr ein Gotteshaus betreten haben.“

Anna-Lena sitzt noch in der Kirchenbank bei ihrer Freundin. Warum sie eine Kerze angezündet habe? Der Oma geht es nicht so gut, sagt sie. Ob sie auch sonst in die Kirche gehe? Nein, da sei sie nicht mehr gewesen seit ihr Neffe getauft wurde. Das war vor zwei Jahren. "Was soll ich denn dort?", fragt sie. "Und außerdem ist das nicht meine Zeit." Die Freundin grinst zustimmend.

Die Wiederentdeckung der Nachtzeit im Protestantismus als Alternative zum Gottesdienst am Sonntagmorgen ist eng verbunden mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag. Auf dem Düsseldorfer Treffen 1973 wurde erstmals eine "Liturgische Nacht" gefeiert. Entwickelt wurde sie von dem Ende vergangenen Jahres verstorbenen rheinischen Pfarrer Uwe Seidel. Er knüpfte an die "Politischen Nachtgebete" an, die Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky seit 1968 auf Katholikentagen und evangelischen Kirchentagen feierten. Die "Liturgische Nacht" wurde zum Vorbild vieler neuer Gottesdienstformen bis heute.

Nach Einschätzung von Günter Ruddat sind die Kirchennächte besonders dort erfolgreich, wo viele Gemeinden, oft ökumenisch, zusammen ihre Kirchentore öffnen. Ruddat ist Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal. Der Liturgiegelehrte macht darauf aufmerksam, dass es eine gute Tradition von Spätgottesdiensten gibt, die auch im evangelischen Bereich lebendig gehalten werde – wie die Osternacht, Pfingstnacht und die Christnacht an Weihnachten. Auch Nächte, in denen viele Kirchen – zumindest für Stunden – geöffnet sind.

Die späte Stunde sei also eine durchaus angemessene Zeit der religiösen Besinnung und nach der biblischen Tradition auch der Gottesbegegnung. "Die Nacht hat etwas Konzentrierendes", sagt Ruddat. Man werde nicht so leicht abgelenkt wie im Alltag. "Ich erlebe Menschen in der Nacht als bereit zum Gespräch wie zum Schweigen, bereit, sich auf Anderes, auf Neues und Ungewohntes einzulassen."

Anna-Lena und ihre Freundin in Trier verabschieden sich aus der Kirche. "Wenn das immer so wäre", sagt sie, "ginge ich vielleicht doch öfter mal in die Kirche." Was ihr gefällt: es sei hier nicht so steif, einfach ungezwungen und man könne kommen, wann man wolle. Das Mädchen schaut noch einmal nach vorne zum Teelichter-Meer unter dem blumengeschmückten Altar. Aber jetzt gehen die beiden erst mal in die Disco, denn da wollten sie eigentlich hin.

Und an diesen Orten und zu diesen Terminen finden im Spätsommer noch „Lange Nächte der Kirchen“ statt:

22. August, 20 bis 24 Uhr, Limburg
23. August, 19.15 bis 24 Uhr, Trier (Nightfever)
23. August, 20 bis 24 Uhr, Halle/Saale
30. August, 20 bis 24 Uhr, Magdeburg
05. September, 18 bis 24 Uhr, Hannover
05. September, 19.30 bis 24 Uhr, Mainz
05. September, 18 bis 24 Uhr, Wiesbaden
06. September, 19 bis 23 Uhr, Potsdam
19. September, 18 bis 24 Uhr, Worms
20. September, 18 bis 24 Uhr, Bremen
20. September, 18 bis 24 Uhr, Wolfenbüttel
02. Oktober, 19 bis 24 Uhr, Würzburg
17. Oktober, 18 bis 24 Uhr, Aachen.

Für Kirchengemeinden, die sich überlegen, ob sie auch eine Nacht der Kirchen veranstalten wollen, hat die EKD ein Ideenheft vorbereitet. Nach den Erfahrungen von Halle an der Saale, Magdeburg, Dresden, Berlin, Hannover, Hamburg, Frankfurt am Main und der Evangelischen Kirche von Westfalen, die alle in den vergangenen Jahren solche Nächte ausgerichtet haben, ist der Kreativität in so einer Nacht keine Grenze gesetzt – 18 Ideen birgt die Broschüre, die auch als Download im Internet zur Verfügung steht (mit epd).

Das Ideenheft zum Downloaden

Weitere Infos zur Langen Nacht der Kirchen an verschiedenen Orten:

Lange Nacht der Kirchen in Hannover

Nacht der offenen Kirchen in Aachen

Nacht der Kirchen in Hamburg

Nacht der Kirchen in Dresden

Nacht der Kirchen in Halle an der Saale

Nacht der Kirchen in Potsdam

Nacht der Kirchen in Wiesbaden