Eine Prachtkirche am Newski Prospekt

Hans Hermann Achenbach ist Pastor in St. Petersburg

08. August 2008


Wenn ich etwas gern von St. Petersburg mit nach Hause nehmen möchte, dann die Art, wie wir das Abendmahl feiern. Der Anblick derer, die in Scharen nach vorne kommen, hat etwas Anrührendes. Die 82-jährige russlanddeutsche Rentnerin Alisa geht gebückt, ihre Augen leuchten: "Pastor, das Abendmahl ist mir Lebensspeise. Da bekomme ich Nahrung für einen ganzen Monat", sagt sie. Alisa freut sich an ihrer neuen Strickjacke, die sie am Donnerstag in der Kleiderkammer erstanden hat. Sie hat in ihrem Leben viele Schläge hinnehmen müssen: Vertreibung, im Krieg das Arbeitslager, den Verlust ihres Mannes.

Valentin ist Russe. Er schwingt sich auf Krücken nach vorne. Vor vier Jahren hatte er einen Verkehrsunfall. Die Operation konnte er nicht bezahlen, die Knochen wuchsen schief zusammen. Seine gute Laune ist unverwüstlich. Ilses üppig schlohweißes Haar fällt ihr auf die Schultern wie bei einem jungen Mädchen. Das Vaterunser spricht sie leicht verzögert und deutlich vernehmbar mit. Manchmal fällt sie auf dem Weg nach vorn theatralisch auf die Knie. Von ihrer kleinen Rente gibt sie den zehnten Teil an die Gemeinde. Mit 50 bis 60 Menschen stehen wir um den Tisch des Herrn. Am Ende halten wir uns an der Hand, drücken sie kräftig, schauen uns in die Augen und kehren mit dem Friedensgruß auf die Plätze zurück.

Mich bewegt, wie die Abendmahlsfeier ein Ort des Friedens und der Versöhnung inmitten all der Turbulenzen unter uns ist. Und mich rührt der Kontrast zwischen dieser Runde und der prachtvollen Umgebung. Unsere St.-Petri-Kirche ist ein geschichtsträchtiges Gebäude mit ehemals 3000 Sitzplätzen im großen Kirchensaal. Während des 19. Jahrhunderts war hier die größte lutherische Gemeinde Russlands mit 18#000 Mitgliedern. Auf der gewaltigen Walcker-Orgel hat Tschaikowsky noch gespielt. Diese reiche Gemeinde war in ganz Russland diakonisch tätig.

Der längst verloschene Glanz scheint nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes heute wieder Auferstehung zu feiern. Die Kirche wurde mit Hilfe der Bundesrepublik erneuert. Der Newski Prospekt, an dem unsere Kirche steht, ist wieder die Prachtstraße St. Petersburgs. Überhaupt bietet diese Kulturmetropole lauter Superlative, so dass man aus dem Schwärmen nicht herauskommt.

Als meine Frau und ich vor fast sechs Jahren hierher aufbrachen, reizte uns Russland. Zum einen hatten wir in unserer vorigen Gemeinde in Mayen intensive Verbindung mit Russlanddeutschen. Was sie von Russland erzählten, faszinierte uns. Und zum anderen war ich in den siebziger und achtziger Jahren als Pastor auf dem Hunsrück in der Friedensbewegung aktiv. Waffen in unserer Gegend richteten sich auf den Osten. Wir kämpften für den Abbau dieser Waffen und schickten Friedensbotschaften in die damalige DDR und nach Russland. Dass es nach all diesen Jahren wieder Kirche in Russland geben sollte, erschien uns wie die wunderbare Erfüllung von Hoffnungen und vielen Gebeten. Und dort Pastor sein zu dürfen, war eine fantastische Vorstellung!

Gott sei Dank war uns nicht klar, was uns alles erwartete. Natürlich wussten wir einiges über die wirtschaftliche und soziale Lage in Russland, aber wir hatten uns auch Illusionen gemacht. Ein bisschen Gemeinsinn bei den Menschen werden wir vorfinden, dachten wir. Dann erschreckte uns aber doch, wie sehr die aufgezwungene Gleichheit Einzelne dazu getrieben hat, den eigenen Vorteil zu suchen. Auch unsere Gemeinde wurde angesichts der vielen Zuwendungen aus dem Westen und verlockender Kontaktmöglichkeiten zum Kampfplatz um Privilegien. Es kam vor, dass selbst engste Mitarbeiter versuchten, Geld, das für ein Gemeindeprojekt bestimmt war, sich selbst unter den Nagel zu reißen. Wenn ich als Pastor hier den Konflikt nicht scheute, zog ich mir erbitterte Feindschaft zu, ich musste mich Verleumdungen erwehren und wurde sogar verteufelt. Zu meinem Erstaunen kam mir dann die Anklage entgegen: "Der Pastor glaubt nicht an die Realpräsenz im Abendmahl!"

In dieser Zeit sprachen mir einzelne Gemeindeglieder Mut zu und sagten: "Pastor, wir beten für Sie." Noch nie sind mir als Prediger die Abschnitte der Bibel, in denen etwa der Apostel Paulus seine Gemeinden ermahnt, so nahegegangen. Ich kann nun besser verstehen, warum er manchmal wie müde und verzweifelt wirkt. Heute sind wir über eine kleine Errungenschaft stolz, über unseren Diakonieausschuss. Er verteilt das Spendengeld nach Bedürftigkeit. Ein Meilenstein in einem Land, in dem sehr oft nur der begünstigt wird, der gute Beziehungen hat.

Jedes Wochenende feiern wir zwei Gottesdienste, am Samstagabend mit russischer und am Sonntagmorgen mit deutscher Liturgie. Dazu bieten wir wöchentlich Bibelseminare und Diskussionen für Jugendliche an. Seit die Religion in Russland nicht mehr unterdrückt wird, gibt es wieder Gottsucher, wie sie die russischen Dichter oft beschreiben. Menschen, die schon bei den Buddhisten oder anderen Religionsgemeinschaften reingeschaut haben. Um Mitglied unserer Gemeinde zu werden, müssen sie den Konfirmandenunterricht absolvieren. Die Altersspanne unserer Konfirmanden reicht von 15 bis 80 Jahren. Ich habe immer gern Konfirmandenunterricht gegeben. Aber hier gehören die elementaren Auseinandersetzungen über den Glauben und das Leben zu den Sternstunden meines Pastorendaseins überhaupt.

Als Propst bin ich für den nordwestlichen Teil der Evangelisch -lutherischen Kirche des Europäischen Russlands (ELKER) zuständig. Weit verstreut liegen unsere Gemeinden: Nowgorod ist 200 Kilometer von St. Petersburg entfernt, Archangelsk 800.

Da unsere Gemeinden ihren Haushalt nur etwa zu zehn Prozent mit eigenen Mitteln bestreiten können, ist es notwendig, Partnerschaften aufzubauen und zu pflegen. Ich habe wieder große Lust am Briefeschreiben bekommen. Besondere Momente sind es, wenn Besuch aus Amerika, Finnland oder Deutschland kommt und wenn wir uns selbst mit einer Delegation aufmachen. Die Großzügigkeit unserer Partner ist überwältigend.

Die wirtschaftliche Situation der St.-Petri-Kirche ist sehr speziell. Einerseits ist es kostspielig, das riesige Gebäude zu bewirtschaften. Andererseits hilft uns die prominente Lage am Newski Prospekt. Während der weißen Nächte, wenn im Sommer die Sonne nur kurz untergeht, kommen jeden Tag Touristen zu uns. Viele haben gehört, dass die Kirche in Sowjetzeiten ein Schwimmbad war. Sie wollen erkunden, ob es davon noch etwas zu sehen gibt. Wir haben einen Zugang zu dem noch vorhandenen Becken geschaffen und können dort unten eine ganz bizarre Welt aus Beton, Treppen und Eisenverstrebungen zeigen. Ein amerikanischer Maler hat die grauen Flächen mit biblischen Motiven bemalt. Ein russlanddeutscher Maler hat eine Kapelle mit einem Bilderzyklus aus der Zeit der Unterdrückung entstehen lassen. Wir nennen diese Gedenkstätte heute "unsere Katakomben".

Es stecken noch viele Möglichkeiten in diesem einzigartigen Gebäudekomplex. Unsere Planungen für ein kleines Altenwohnheim drohen immer wieder im Dickicht von Reglementierung und Bestimmungen zu ersticken. "Pastor, das ist in Russland nicht erlaubt!", heißt es dann. Ein Spruch, der Angst vor eigener Initiative ausdrückt. Kein Wunder, der Leibeigenschaft unter den Zaren folgte in Russland fast nahtlos die Sowjetdiktatur.

In weniger als einem Monat ist unsere Zeit in St. Petersburg zu Ende. In keiner Lebensphase sind meine Frau und ich so gebeutelt worden, nie haben wir so intensiv und beglückt gelebt. Und wenn wir dann das Abendmahl zu Hause feiern werden, wird das Erlebte wieder ganz präsent sein und Gottes Gegenwart uns mit denen, die wir zurücklassen, verbinden.