„Mein erster Schultag“

Eine alte Tradition – ein aktuelles Symptom

06. August 2008


Das Bild nimmt eine gesamte Seite im privaten Fotoalbum ein: in Schwarz-Weiß erinnert es an längst vergangene Zeiten. Es zeigt einen mühsam lächelnden Jungen mit einem Tornister auf dem Rücken und einer Schultüte in der Hand. Er steht vor einer Mauer – der Mauer des Schulhauses? Neben ihm hängt eine kleine Tafel, wie sie schon damals im Grundschulunterricht nicht mehr genutzt wurde. Auf der Tafel stand in einer Schrift, die er auch nicht mehr lernen musste, geschrieben: „Mein erster Schultag“. In der Zwischenzeit wurde der Sohn dessen schon eingeschult, den dieses Schwarz-Weiß-Bild an seine Einschulung erinnert. Der Sohn hatte allerdings keinen Tornister, sondern einen bunten Schulranzen. Auch dieses „klassische“ Einschulungsbild gab es nicht mehr, sondern ein fröhliches Bild voller Unruhe und Bewegung – so wie jenes Bild von den drei Mädchen auf dieser Internetseite.

Geblieben ist die Schultüte und die Stimme, die vom „Ernst des Lebens“, redet, Dieser Ernst beginne nämlich mit der Einschulung. Den Schritt in den „Ernst des Lebens“ soll der Inhalt der Schultüte „versüßen“ – aber keine Angst: Den Satz vom „Ernst des Lebens“ werden alle Schülerinnen und Schüler noch ein zweites Mal hören: Dann, wenn die Schulzeit zu Ende ist und mit Studium, Berufsausbildung oder Berufstätigkeit ein neuer Abschnitt beginnt – dann allerdings ganz ohne Schultüte voller Süßigkeiten. Das mit dem Ernst des Lebens ist also zumindest relativ.

Das war nicht nur in den 60er Jahren so, als jener in schwarz-weiß-fotografierte, heutige Vater eingeschult wurde, das war auch schon 1906 nicht anders. Erich Kästner erinnerte sich an seine Einschulung und die „Zuckertüte mit der seidnen Schleife. Er wollte die Tüte, auf die er so stolz war, seiner Nachbarin zeigen und dabei ließ er sie fallen: Er „stand bis an die Knöchel in Bonbons, Pralinen, Datteln, Osterhasen, Feigen, Apfelsinen, Törtchen, Waffeln und goldenen Maikäfern“ – die Füße zwischen den Süßigkeiten machen das Bild vom versüßten Schritt in den „Ernst des Lebens“ sinnfällig. Unabhängig davon belegt die Geschichte des Schriftstellers allerdings ein: Schultüten haben eine lange Tradition und lassen sich vermutlich bis ins 19. Jahrhundert zurück verfolgen.

Ursprünglich wohl in Sachsen und Thüringen sollte damit der Übergang in die gesetzlich verpflichtende Schulzeit angenehmer gemacht werden – vielleicht ungefähr zu der Zeit, als auch in den letzten deutschen Ländern die Schulpflicht gesetzlich geregelt wurde. In Preußen hat König Friedrich Wilhelm I. die allgemeine Schulpflicht für Fünf- bis Zwölfjährige im Jahr 1717 eingeführt. Andere Länder im deutschen Reich sind der Aufforderung Martin Luthers früher gefolgt. Er hatte 1524 in einem Sendschreiben an die „Ratsherren aller Städte deutschen Landes“ diese aufgefordert, „dass sie christliche Schulen aufrichten und haben sollten“. So war wohl Straßburg – damals freie Reichsstadt – der erste Ort mit einer gesetzlich geregelten allgemeinen Schulpflicht (1598), in Württemberg wurde die allgemeine Schulpflicht schon 1559 in die Große Kirchenordnung aufgenommen. Heutzutage ist in allen Bundesländern die Schulpflicht gesetzlich geregelt.

Allerdings gab es immer wieder Zeiten, in denen Kinder ohne oder mit nur halb gefüllter Schultüte den ersten Gang zum örtlichen Schulhaus oder vorab zum Schulanfängergottesdienst antreten mussten. Und die fehlenden Süßigkeiten sind heutzutage  nur ein Symptom, das leichter kaschiert werden kann, als manch anderes. Wer schon einmal ein Kind auf seinem ersten Schulgang begleitet hat, ahnt, welche Kosten auf die Eltern in diesem Moment des Lebens zukommen: Hefte, Stifte, Schulranzen, angemessene Kleidung, Turnbeutel, Turnschuhe, die für die Sporthalle geeignet sind, das tägliche Pausenbrot und – für das Lernen genauso wichtig – zu Hause ein Platz, wo die Hausaufgaben möglichst ungestört erledigt werden können. Nur wer vom ersten Schultag an auf seine Bildung achtet, hat auch eine Chance später am Leben teilnehmen zu können.

Die Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, hat vor wenigen Wochen am Beispiel ihres Bundeslandes auf die Misere aufmerksam gemacht: „Jedes 6. Kind unter 7 Jahren in Niedersachsen ist auf Sozialhilfe angewiesen. Der Tagessatz für Kinder (unter 14 Jahren) von Hartz IV Empfängern für Lebensmittel beträgt 2,57 Euro, der monatliche Regelsatz für die Wahrnehmung kultureller Aktivitäten (inkl. Schulmaterialien und Freizeitgestaltung) beträgt 22,88 Euro. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Kinder mit hungrigem Magen in der Schulbank sitzen. Es ist bedrückend, dass sich Kinder schämen, weil sie mit Gummistiefeln, ohne Ranzen und Schultüte zur Einschulung kommen müssen. Es ist inakzeptabel, dass Kinder daheim bleiben müssen, während die anderen auf einer kostenpflichtigen Klassenfahrt Spaß haben. Es ist ungerecht, wenn die einen teure Nachhilfestunde nehmen, die andere nicht bezahlen können. Es darf nicht sein, dass Kinder nicht wissen, was sie in der Ferienzeit anfangen sollen.“ Das sieht in anderen Bundesländern nicht anders aus, denn nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) leben gegenwärtig bundesweit 2,5 Millionen Kinder in Armut oder sind davon bedroht.

Einige Landeskirchen haben Aktionen gegen die Kinderarmut gestartet, so etwa „Zukunft(s)gestalten. Allen Kindern eine Chance“ in der hannoverschen Landeskirche oder „Lasst uns nicht hängen. Gegen Kinderarmut“ in der westfälischen unter der Schirmherrschaft von Christoph Biemann von der „Sendung mit der Maus“. Der Start in den Schulalltag – nicht unbedingt in den „Ernst des Lebens“ – findet für viele Erstklässler in diesen Tagen und Wochen statt – alle sollen nicht nur eine Schultüte , sondern eine echte Bildungschance haben.

Zukunft(s)gestalten – Allen Kindern eine Chance – Initiative der hannoverschen Landeskirche

Lasst uns nicht hängen. Kampagne der Evangelischen Kirche von Westfalen gegen Kinderarmut

Gerechte Teilhabe – Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, Juli 2006 (die auch den Zusammenhang zwischen Armut und Bildung betrachtet)