Gemeinde unter Palmen

Klaus-Peter Weinhold ist Pfarrer auf den Balearen

22. Juli 2008


"Man bekommt hier einen Einblick in die mannigfaltigsten Arten zu leben und hat mit den merkwürdigsten Leuten zu tun... Weltenbummler, Vagabunden, geflüchtete Verbrecher, viele Fremdenlegionäre, Löwen- und sonstige Tierbändiger, die dem Circus Krone auf seiner Spanienreise durchgebrannt sind. Im Übrigen sitzen in Cafés Reiche, Spießbürger und recht ärmlich Aussehende untereinander." Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb diese Zeilen über Mallorca 1929 in sein Tagebuch. Als 22-Jähriger war er als Vikar in Barcelona und auf den Balearen.

Ist der Pfarrer auf Mallorca Löwenbändiger? Sind die Balearen ein Zirkus der Schönen und Reichen, Aussteiger und Ausgeflippten? An Vorurteilen und Sprüchen war kein Mangel, als ich vor dreieinhalb Jahren die Gemeinde- und Tourismuspfarrstelle auf Mallorca antrat. Es gibt die schillerndsten Vorstellungen: von der Putzfraueninsel bis zur Nobeladresse für Stars und Sternchen. Mallorca war nie eine Insel der Seligen und des abgeschiedenen Glücks. Die Balearen liegen strategisch zentral im Mittelmeer. Hier ließen Römer und Phönizier, arabische Fürsten, jüdische Händler und christliche Könige ihre Spuren zurück. Damals wie heute traf sich eine bunte, internationale Welt. Die wilden Jahre mit den Saufgelagen am Ballermann und Hippiepartys auf Ibiza sind vorbei. Zwar kann man weiterhin an der Playa de Palma feiern, und die großen Discotheken auf Ibiza haben noch immer angesagte DJs. Aber der Trend geht zum Qualitätstourismus: Wellness, Golfen, Radfahren, Wandern, Wassersport. Konzerte und Ausstellungen stehen im Kulturprogramm.

"Wenn du das Paradies aushalten kannst, komm nach Mallorca", sagen viele. Das Leben hier ist sehr intensiv. Eine Konfirmandenmutter sagte mal: "Die Hormone ticken hier anders! Alle deine Sinne sind wie berauscht. Du tankst mehr Sonne; Gerüche und Geschmäcker sind unmittelbarer. Ständig triffst du interessante Leute, gibt es eine Einladung zum Café con leche oder zum Shoppingbummel. Die flirrende Mittagshitze zwingt dich zur Siesta, dafür findest du abends viel zu spät ins Bett." Die Natur stimuliert alle Sinne. Licht und Farben machen trunken. Ihre Energie ist elementar, wie die sintflutartigen Regenfälle und donnernden Gewitter, die im Frühjahr oder Herbst den Garten zerstören und die Ziegel vom Dach hauen. Man schimpft, weil einem der Blitz zum zweiten Mal den Computer zerlegt hat und man wieder eine Woche ohne Festnetzanschluss ist. Wahrscheinlich ist deshalb das Wort ,tranquilo' so überaus beliebt im Spanischen. Gelassenheit muss man mit der Zeit lernen. Auch dass man nicht alles sofort und perfekt macht. Meine Frau und ich vertrauen inzwischen unserer Improvisationsfähigkeit.

Gastfreundlich sind die Mallorquiner und bescheiden - aber stolz auf ihre schöne Insel. Und der Tourismus boomt. Mallorca ist von allen Metropolen Europas in gut zwei Stunden erreichbar. Drei bis vier Millionen der jährlich zehn Millionen Touristen kommen aus Deutschland. Zwanzig- bis dreißigtausend Deutsche wohnen dauerhaft auf den Balearen, hinzu kommen zahlreiche Saisonbewohner, die für einige Monate das milde Klima schätzen.

Das Klima schenkt dem Alter zehn Jahre, sagt man. In der Tat sind hier viele ältere Menschen überaus rüstig und aktiv. Zum Problem wird der Lebensabend im sonnigen Süden dann, wenn ein Partner stirbt, wenn man nicht mehr Auto fahren kann und die finanzielle Planung wegen steigender Preise nicht aufgeht. Zudem verlieren viele mit den Jahren die Bindung an Deutschland, die Kinder leben verstreut in der Welt. Den Traum vom einfachen Leben unter Palmen schüren Sendungen wie "Wir wandern aus". Doch ohne verlässliche berufliche, sprachliche, familiäre Bindungen hat man es unglaublich schwer. Die günstige Finca auf Mallorca gibt es längst nicht mehr, zu viele falsche Freunde warten mit Tipps. Um es zu schaffen, muss man härter und länger arbeiten als in Deutschland.

Natürlich hat die Insel ihren Reiz. Aber was sich mancher ausmalt, entzieht sich nüchterner Betrachtung. Da ist zum Beispiel die Altenpflegerin, ich nenne sie Gertrud. Sie beschloss, mit ihrem Sohn hierher auszuwandern, fand aber mangels Sprachkenntnissen weder bei spanischen noch bei englischen Pflegediensten Arbeit. Sie bot ihre Dienste selbstständig an, war aber nur begrenzt belastbar. Ihr zehnjähriger Sohn ist lernbehindert, die öffentlichen Schulen nahmen ihn nicht auf. Für Privatschulen fehlte das Geld. Drei Monate hauste Gertrud mit ihrem Sohn im Auto am Strand, dann kamen die nasskalten Herbsttage. Wir gaben ihr in der Gemeinde Unterkunft und - nach einiger Überzeugungsarbeit - auch Geld für die Rückkehr nach Deutschland.

Eine ganz andere Geschichte hat Eva Strich zu erzählen, ein 88-jähriges Mitglied unserer Gemeinde. Seit ihrer Pensionierung lebt sie auf Mallorca. Schon während des Zweiten Weltkrieges war sie Auslandslehrerin im Baskenland. Später arbeitete sie einige Jahre in Istanbul. Auf Mallorca fand sie schnell Anschluss an eine internationale Gruppe aktiver Menschen, die im Museum, bei Ausgrabungen sowie als Übersetzer und Reiseführer halfen. Heute wohnt sie in der Altersresidenz Es Castellot und organisiert Seniorenfahrten zu Veranstaltungen auf der Insel.

400 feste Mitglieder zählt unsere Gemeinde. Sie leben über die Insel verstreut. Fünf Predigtstellen erfordern rege Reisetätigkeit: Samstags um elf in der Glasfensterkirche "La Porciuncula" von Playa de Palma, am Nachmittag in einer Seniorenresidenz 20 Kilometer westlich. Sonntags ist Cala Ratjada im äußersten Osten dran und Paguera im äußersten Westen, einmal im Monat auch Ibiza. Zum Glück unterstützt mich ein Pfarrer im Ruhestand.

Oft feiern wir Gottesdienste auf einer Finca unterm Olivenbaum - Kirche aus dem Kofferraum sagen wir dazu. Als Altar dient ein Tisch mit Altardecke. Kreuz und Kerzen bringe ich mit. Bis zu zwanzig Klappstühle passen in meinen Kofferraum. Wenn die Organistin sie braucht, sogar noch die tragbare elektronische Orgel. Dazu Gläser, Kaffee und Gebäck für den Kirchenkaffee. Ansonsten können wir problemlos in den katholischen Kirchen und Kapellen der Insel feiern, taufen und trauen. Höhepunkt sind die beiden deutschsprachigen ökumenischen Heiligabend-Gottesdienste in der Kathedrale von Palma. Zu jedem kommen rund 2500 Menschen: Familien, die hier leben und Besucher mitbringen, dazu viele Stammgäste, die jedes Jahr Weihnachten unter Palmen feiern. Die Musik, die geschmückte Kirche und die festliche Stimmung sind für sie ein Muss. Festliche Hochzeiten auf den Balearen sind äußerst beliebt. Paare suchen die stimmungsvolle Kulisse für ihre Feier, sie nutzen das Angebot an Restaurants mit gutem Catering. Und sie suchen selbstbewusst und offen das Gespräch mit mir. Intensiv und bewusst fragen gerade Menschen in Entscheidungspositionen nach Gott und einem verlässlichen Glauben.

Die deutschsprachigen Kinder und Jugendlichen zwischen acht und 15 Jahren treffen sich bei unseren Familienfreizeiten, Konfirmandentagen und Sommercamps. Wir sprechen Deutsch - nur eine der vielen Sprachen, die sie beherrschen müssen. Schulsprache ist Catalan, mit Freunden spricht man Mallorquín, den regionalen Dialekt. Erste Fremdsprache ist Spanisch, es folgen Französisch und Englisch. Wer das alles meistert, hat ein gutes Polster an Sprach- und Organisationsfähigkeit für das weitere Leben.

Konfirmandenunterricht im Pfarrgarten von Arenal, 850 Meter abseits der massentouristischen Hochburgen um Balneario sechs. Thema: Gottesbilder. Stellt euch Gott als Tier vor! "Für mich ist er ein Elefant", meint Alexander, 15, seit zehn Jahren auf Mallorca. "Er ist zärtlich zu den Jungtieren, treu zu den Alten. Und mit einem Elefantengedächtnis ausgestattet."

Klaus-Peter Weinhold, 54, Pfarrer aus Nordelbien, lebt mit seiner Frau Brigitte seit 2005 auf Mallorca. http://www.kirche-balearen.de/
(Quelle: chrismon)