Schattenkinder - Geschwister behinderter Kinder kommen oft zu kurz

Einzigartige Beratungsstelle in Bremen stellt sie in den Mittelpunkt

18. Juli 2008


Als Constanze mit sieben Jahren das Laufen lernte, war die Sensation perfekt. Denn viele Mädchen mit einem Rett-Syndrom, einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung, schaffen das nie. Constanze hat es gepackt. Das Lob ließ nicht lange auf sich warten und kam von allen Seiten. Bei ihrem älteren und nicht behinderten Bruder Christian entstand Frust. Denn im Schatten seiner zwei Jahre jüngeren Schwester blieben seine Lernfortschritte oft unbeachtet.

"Die Fragen der Geschwister behinderter Kinder kommen im Alltag häufig zu kurz", sagt Marlies Winkelheide. Die Sozialwissenschaftlerin leitet eine bundesweit einzigartige Beratungsstelle bei der Lebenshilfe in Bremen, die mit Seminaren und regelmäßigen Treffen die Bedürfnisse von Geschwistern behinderter Kinder in den Mittelpunkt stellt. Seit mehr als 25 Jahren begleitet Winkelheide Gruppen von Geschwisterkindern und hat erfahren, dass Eltern dem behinderten Bruder oder der Schwester oft erheblich mehr Aufmerksamkeit widmen. Deshalb lernen Kinder wie Christian früh, Rücksicht zu üben, Verantwortung zu übernehmen und ihre eigenen Wünsche zurückzustellen.

Beim genetisch verursachten Rett-Syndrom verlaufen die ersten Lebensmonate des Kindes völlig unauffällig. So war es auch bei Christians Schwester Constanze. Erst später will es mit der Entwicklung einfach nicht vorangehen. Im Gegenteil: Bereits Erlerntes geht wieder verloren. "Wir waren ein paar Jahre im Ausnahmezustand", bilanziert die Mutter von Christian und Constanze, Kristine Rohdenburg. Irgendwann war klar: Das Mädchen ist schwerbehindert.

Egal, ob das Kind von Geburt an behindert ist oder die Behinderung als Folge von Krankheit oder Unfall entsteht - die Eltern müssen viele Träume und Wünsche fahren lassen. "Man verabschiedet sich vom bisherigen Leben", sagt Kristine Rohdenburg und ergänzt: "Da war der Geschwisterkreis eine große Hilfe, denn wir hatten kaum Platz für Christian. Die Gruppe ist ein geschützter Raum, den wir ihm als Eltern nicht geben können."

Kinder wie der heute 13-Jährige sind oft isoliert und haben niemanden, der in einer ähnlichen familiären Situation steckt und mit dem sie ihre Erfahrungen teilen können. Sie setzen sich selbst unter Druck und wollen funktionieren, damit das häufig mühsam errungene Arrangement zur Bewältigung des familiären Alltags nicht scheitert. Sie passen sich an, um den Eltern "nicht zusätzlich Kummer zu machen".

Gerade diese Unauffälligkeit hinterlässt Spuren. "Die Kinder haben viele Fragen, die sie in der Gruppe loswerden können", beschreibt Marlies Winkelheide ihre Erfahrung aus der Beratungsstelle, die von der "Aktion Mensch" unterstützt wird. "Zum Beispiel nach dem Wert der eigenen Persönlichkeit: Werde ich nur wertgeschätzt, weil ich einen behinderten Bruder oder eine behinderte Schwester habe - oder weil ich ich bin?"

Auch andere Fragen sind existenziell: Muss ich nicht ein Leben lang dankbar sein, weil ich nicht behindert bin? Muss ich mich schämen, wenn ich auf meine behinderte Schwester sauer bin? Darf ich mein Leben unabhängig planen? Muss ich besonders gute Leistungen bringen, damit meine Eltern auf mich stolz sein können? "Christian steht mehr und mehr zu den eigenen Fragen und Wünschen", freut sich Kristine Rohdenburg über den Erfolg der Geschwistergruppen, an denen der Junge seit sieben Jahren teilnimmt.

Auch die Mutter geht mittlerweile entspannter mit der Situation um. "Wir sind mit Constanze keine normale Familie, und das werden wir nicht. Das muss aber auch keine Katastrophe sein. Was möglich ist, tun wir. Wir schauen, dass Zeit für Christian ist und mein Mann und ich auch nicht zu kurz kommen." Dazu gehört auch der Herbsturlaub, den Christian nun schon seit einigen Jahren regelmäßig nur mit seinem Vater Wolfgang in den Bergen verbringt.

In einem Buch von Marlies Winkelheide schreibt die heute 18-jährige Marianna, wie sie das Zusammenleben mit ihrer behinderten Schwester Andrea erlebt. Ohne böse Absicht sei ihr immer die Rolle der Großen, Starken und Erwachsenen zugeteilt worden. "Aber inzwischen habe ich diese Rolle abgelegt, und jetzt fängt mein Leben an. Nun kann ich sagen, dass ich reich an Erfahrung bin, stark und fast erwachsen." Ihre behinderte Schwester ist für sie einmalig: "Sie erwartet nichts für ihre Liebe. Sie bringt Schwung in mein Leben. Ohne meine Andrea würde mir was fehlen, etwas ganz Großes. Mein Herz wäre dann wie zugefroren." (epd)

Lebenshilfe Bremen „Geschwister"

Internetpräsenz „Geschwisterkinder“