Unter dem gestrengen Blick des Jubilars

Diskussion mit Politik und Wirtschaft zu Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik

05. Juni 2008


„Fünsch“ blicke er auf dem Bild drein, Johann Hinrich Wichern - das bemerkt Klaus-Dieter Kottnik, der Präsident des Diakonischen Werkes der EKD. Fünsch? Ist – schnell nachgeschlagen - ein im Norden Deutschlands gebräuchliches Wort für „gereizt“ oder „verärgert“. Tatsächlich schaut der Begründer der modernen Diakonie nicht eben herzlich lächelnd von seinem Plakat auf die rund 130 Teilnehmer des Kongresses in der Berliner Friedrichstadtkirche, dabei hätte er allen Grund dazu. Schließlich ist sein 200. Geburtstag Anlass für die Tagung, schließlich geht es an diesem 3. und 4. Juni um „seine“ Themen, um den „Evangelischen Dialog mit Politik und Wirtschaft zu Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik“.

Schon am Vorabend des Studientages haben ungewohnte Töne das Porträt vor 200 Jahren geborenen erreicht: Trommelklänge afrikanischer Abstammung  eröffneten den Abend. Auch wenn die Geburtsstadt Hamburg damals schon das Tor zur Welt war, wird es der Sozialreformer nicht gewohnt gewesen sein, dass bunt und luftig gekleidete Menschen mit Trommeln eine Versammlung sozial engagierter Kirchenleute begrüßen. Trommeln mögen damals eher für militärische Umzüge genutzt worden sein. Der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, eröffnet mit einem geistlichen Wort den sozialpolitischen Kongress. Er spricht vom Netzwerk rettender Liebe, das Jesus gewollt und das Johann Hinrich Wichern damals in Hamburg und Berlin gegründet habe. Der Arbeitsminister der Bundesregierung, Olaf Scholz, selbst Hamburger wie der Jubilar, beschrieb die derzeitige gesellschaftliche Situation und die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt seit zehn Jahren. Eines sei klar, so Olaf Scholz in Anlehnung an Martin Luther, Max Weber, Johann Hinrich Wichern und Hermann Löhe: „Arbeit ist Hoffnung! Arbeit ist Mühe!“

Den „fünschen“ Blick ein bisschen aufgehellt hätte Johann Hinrich Wichern, der Gründer des Rauhen Hauses in Hamburg und des Johannestiftes in Berlin sicherlich, als Die Preisträger des Jugendwettebewerbs anlässlich der 200. Wiederkehr seines Geburtstages vorgestellt und prämiert wurden: Junge Menschen – Schüler, Schulklassen, Jugendgruppen –, die sich Gedanken gemacht haben zur Frage „und wie sozial bist du?“. Umgesetzt in Comics, Musik, Videos, Internettagebücher widersprechen sie allen, die immer wieder unken, das sei eine Frage, die Jugendliche nicht interessiere. Und da bleibt es letztlich unerheblich, dass unter dem verärgert wirkenden Blick eine junge Moderatorin sich müht, so etwas wie Fernsehstudioatmosphäre in die altehrwürdige Französische Friedrichstadtkirche auf dem Gendarmenmarkt zu zaubern.

Wie auch immer der Gefeierte dreinblickt – klar ist, dass es bei diesem Kongress nicht um „Heldengedenken“ gehen kann. Das sagt Heinrich Bedford-Strohm, Professor für Evangelische Theologie an der Universität Bamberg. Und damit ist er nicht allein: „Wie kann uns das Werk Johann Hinrich Wicherns noch heute befruchten, uns alte und doch wieder ganz neue Wege zeigen?“ Klaus-Dieter Kottnik formuliert die zentrale Frage der Veranstaltung. Er verweist auf das immer aktuelle Dreierlei, um das es Wichern ging: Wahrnehmen, Glauben, Handeln. Wahrnehmen – Armut wahrnehmen – heißt laut Kottnik heute: Nicht wegschauen von der wachsenden sozialen Ungleichheit, die sich zum Beispiel in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung niederschlägt. Der Präsident macht deutlich: Der Ausschluss Vieler von Lebenschancen ist vor allem ein systematisches Problem. Wie gehen wir als Christen damit um? Bei dieser Frage kommt der Glaube ins Spiel, Wicherns unbedingtes Vertrauen, dass Menschen auf das Evangelium ansprechbar sind. „In unserer Gesellschaft driften Welten auseinander. Wichern würde uns heute zumuten, hier Verbindungen zu suchen und herzustellen.“ Also: Handeln. Zivilgesellschaftliches Engagement weiter entwickeln, in Politik, Kirche und Diakonie. Kottnik betont die Bedeutung der Bildung für gesellschaftliche Teilhabe und warnt gleichzeitig: nicht als „ökonomisches Allheilmittel“ sei die Bildung zu verstehen, sondern als Mittel für die individuelle und soziale Entwicklung von Menschen.

Groß ist der Applaus, der dem Diakoniepräsidenten gilt und dem nun hinter das Rednerpult tretenden Heinrich Bedford-Strohm. Auf dem von Kottnik thematisch bereiteten Boden skizziert der Professor „Strategien gegen Ausgrenzung“. Seine Anregungen gehen zuvorderst an die Adresse der Diakonie, und sie haben es in sich: Mutig soll sie ihre Kompetenz in die Zivilgesellschaft und deren Debatten einbringen. Anrühren soll sie sich lassen von den Schicksalen der Betroffenen, immer suchend bei der Entwicklung von Strategien. Glaubwürdig soll sie sein und sich an ihren eigenen Maßstäben messen lassen. Im Mittelpunkt ihres Handelns solle nicht die „Kaufkraft“, sondern die „Taufkraft“ stehen. Ernst nehmen soll sie schließlich und vor allem die Teilhabe der Armen in den „eigenen Reihen“, in den Gemeinden.

„Eine Kirche, die sich dieser Aufgabe nicht stellt, ist keine Kirche mehr“, mahnt Bedford-Strohm, doch er nimmt auch Gesellschaft und Staat nicht aus der Verantwortung beim Kampf gegen Ausgrenzung: Für die Gesellschaft stehe ihre Humanität auf dem Spiel, für den Staat seine Bestimmung. Deshalb: „Die Überwindung von Ausgrenzung ist eine gemeinsame Aufgabe.“

Sind sich also alle einig in der Französischen Friedrichstadtkirche? Ja, wenn es um die Bedeutung von Bildung als Beitrag zu Befähigung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht. Aber: Nein mit Blick auf die Instrumente, die aus der Armut führen sollen. Und während draußen die Berliner Sonne brennt, steigen im Laufe des Tages auch im Kirchenraum die Betriebstemperaturen: Diskutiert werden die Sinnhaftigkeit von staatlichen Transferleistungen und von Mindestlöhnen, Hartz IV wird hin und her gewendet. Während Wolfgang Sartorius, Vorstandsmitglied der Evangelischen Obdachlosenhilfe, die sozialpolitische Überarbeitung der Agenda 2010 fordert, beharrt der CDU-Bundestagsabgeordnete Gerald Weiß, darauf, dass lediglich deren Effektivität verbessert werden muss. Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, betont die Bedeutung des „Förderns“ bei der Umsetzung der Hartz–Gesetze in den Jobcentern vor Ort. Bischof Wolfgang Huber schließlich, vom Moderator am Abend zu einem „noch größeren geistigen Rundumschlag“ aufgefordert, gibt der Politikerin, die Mitglied der EKD-Synode ist, Recht. Er seziert das Begriffspaar „Fördern und Fordern“, das die Zielsetzung der seit 2004 wirkenden Arbeitsmarktreformen überschreibt, nicht nur von seinem Inhalt her, sondern auch rein sprachlich, in dem er es als das entlarvt, was es ist: Produkt „deutschen Neigung zur Alliteration“, dessen „Anziehungskraft, über die Leistungskraft hinaus geht.“

Vortrag des EKD-Ratsvorsitzenden „Evangelischer Dialog mit Politik und Wirtschaft zu Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik: "Zwang verwandelt die Wohltat in ein Übel"