Die Schubkraft der Umkehr

An Pfingsten feiern Christen den heiligen Geist

10. Mai 2008


Strahlender Sonnenschein, grüne Wiesen, blühende Gärten und Wälder voller Laub: Das Pfingstfest zeigt sich – zumindest wettermäßig – von seiner besten Seite. All die Sonnenstrahlen sind jedoch nichts anderes als ein Sinnbild für das, was Christen am Pfingstfest – 50 Tage nach Ostern – feiern. Sandra (23) hat dies bei einer Straßenumfrage so zusammengefasst: „Gott hat seinen Heiligen Geist über die Jünger Jesu ausgeschüttet.“ Recht hat sie – und wie der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, dies erklärt ist in diesem Jahr in der Rhein-Neckar-Zeitung (Heidelberg) zu lesen. Oder auch hier im Internet:

Bei jedem Flug gibt es den Augenblick, bei dem ich unwillkürlich die Luft anhalte. Es ist der Augenblick der Landung. Ich warte nicht so sehr, ob die Räder richtig auf der Landebahn aufsetzen. Ich warte auf die Schubumkehr. Wenn die Räder aufgesetzt haben, spüre ich, welcher gewaltigen Kraft ich mich anvertraut habe. Der Pilot muss das Tempo verlangsamen. Es gäbe eine Katastrophe, wenn die Triebwerke das Flugzeug nicht mit derselben Kraft abbremsten, mit der sie es auf Geschwindigkeit gebracht haben. Erst wenn diese Umkehr der Kraft, die in dem Flugzeug steckt, gelingt, verlangsamt es seine Fahrt. Schubumkehr nennen die Techniker es, wenn die Beschleunigungskraft in eine Bremskraft verwandelt wird. Ich atme erleichtert auf, wenn ich das Gefühl habe, dass dies gelingt.
Pfingsten ist ein Fest der Schubumkehr. Das Kommen des Geistes Gottes bewirkt die Umkehr vom rasenden Weg ins Verderben zu einem neuen Anfang. Natürlich kommt das Wort „Schubumkehr“ in der Bibel nicht vor. Doch das Pfingstwunder ist die Umkehr der babylonischen Sprachverwirrung: Fremde können sich verstehen. Das Ende, das Jesu Weg auf Erden findet, kehrt sich um in den Beginn des Weges der christlichen Kirche durch die Zeiten.
Pfingsten gehört zu den großen Festen im Kirchenjahr. Hinter Weihnachten und Ostern steht es nicht zurück. Doch das Kommen des Geistes ist nicht so leicht anschaulich zu machen wie das Wunder der Geburt in der Krippe; es ist unscheinbarer als die dramatischen Ereignisse von Kreuz und Auferstehung. Aber das Kommen des Geistes ist deshalb nicht weniger wichtig. Es bewirkt eine Schubumkehr. Und diese Schubumkehr kann Leben retten.
Deshalb sollten alle Pfingsten feiern. Niemand sollte es sich selbst verbieten, von Gottes Geist überrascht zu werden. Wir alle bleiben ein Leben lang auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen, die der Lauf des eigenen Lebens aufwirft. Wer ist mir Freund? Wo finde ich Glück? Wozu lebe ich? Wem kann ich meine tiefsten Nöte und Fragen anvertrauen? Im Umgang mit diesen Fragen brauchen wir die Kraft, die Geister zu unterscheiden – den „Geist der Welt“ und den „Geist aus Gott“. Der Geist aus Gott – das ist ein Geist, der in uns den Sinn Christi weckt, der von Glaube, Liebe und Hoffnung bestimmt ist. Er führt uns über das Sichtbare und Machbare hinaus. Wir brauchen diesen Geist, damit wir nicht versinken in einen Geist des Kleinmuts, der wechselseitigen Abgrenzung und der Resignation.
Der Geist von Pfingsten ist der Geist der Freiheit. So wie Christen die Taufe als Fest der Begabung des einzelnen Menschen mit Gottes Geist feiern, so feiert die Christenheit an Pfingsten die Sendung des Geistes Gottes für alle. Diesen Geist kennzeichnet der Apostel Paulus folgendermaßen: Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.
Dieser Zusammenhang zwischen dem Pfingstfest und der Taufe ist bedenkens- und bemerkenswert. Deshalb veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland zu Pfingsten 2008 eine grundlegende Orientierungshilfe zum Verständnis der Taufe. Die evangelische Kirche schenkt dem Anfang des Christseins im Leben eines Menschen und dem Grund des christlichen Glaubens besondere Aufmerksamkeit. Menschen sollen dazu ermutigt werden, ihr Leben in der Taufe Gott anzuvertrauen. Ich freue mich darüber, dass dieses gute Beispiel evangelischer Elementartheologie genau zu Pfingsten der Öffentlichkeit vorgestellt wird.
Am ersten Pfingstfest überkam der Geist der Freiheit die Gemeinde in Jerusalem wie mit Feuerflammen. Die Glut dieses Feuers ist nicht erloschen. Selbstbewusst und fröhlich sagen wir als evangelische Kirche: Ein direkter Weg führt vom ersten Pfingstfest bis heute und hierher nach Deutschland. Wir feiern das Fest gemeinsam mit den Schwestern und Brüdern in der weltweiten Christenheit. Der Geist Christi verbindet uns miteinander; er öffnet füreinander; er lässt uns verschiedene Gaben entwickeln und Glieder an einem Leib sein. Der Gründungstag der christlichen Kirche stellt uns vor Augen, dass wir unseren christlichen Glauben nicht allein leben können. Wir stehen in einer Gemeinschaft der Glaubenden. Wir stehen auf den Schultern derer, die vor uns geglaubt haben. Wir halten die Hände derer, die mit uns glauben. Und wir bieten hoffentlich auch die Schultern für diejenigen, die nach uns glauben wollen.
Die christliche Kirche ist eine Verantwortungsgemeinschaft für die Weitergabe des Glaubens. Sie ist eine Gemeinschaft, die Sprachen, Völker und Kontinente umgreift. Pfingsten ermutigt dazu, aus der Freiheit zu leben und anderen den Zugang zu dieser Freiheit zu eröffnen.