Brot und Altar

Wer ist Johann Hinrich Wichern wirklich gewesen?

21. April 2008


Dieses unsägliche Elend! Wer hat es denn wahrgenommen – -außer den Armen selbst? Wir blicken in Hamburgs Steinstraße – die Verlängerung des Speerorts, wo heute die ZEIT ihren Sitz hat –, -»Ibenhof, letzte Bude […]. In der Ecke ein Haufe Stroh, darüber ein Strohsack und Lumpen, unter den Lumpen ein 73jähriger Mann, an der Brustkrankheit entsetzlich krank, daß er kaum sprechen konnte, ohne Wäsche, ohne Kopfkissen – ein Bild des Entsetzens und herzzerschneidenden Jammers. Die Frau (39 Jahre alt), nur mit einem Katun-Leibchen und Katun-Rock bekleidet, und schier nichts weiter auf dem Leibe – ohne Wäsche und alle Unterkleider und jene katune Bedeckung zum Teil noch zerlumpt, so daß das bloße Fleisch heraussah. Ebenso ein großgewachsenes Mädchen Marie (13 Jahre) und ein gro-ßer Bengel (Louis, 23 Jahre) und zwei Knaben, Heinrich 8 Jahre und August 10 Jahre, und Naucks 5 Jahre. Alle ohne Wäsche, blasse Gestalten, klappernd vor Hunger und Frost. Die Lippen strömen über von Klagen über ihren Jammer, alle sprachen zugleich. Die 13-jährige Marie saß auf dem Boden und schabte einen rasengrünen Apfel auf einer Scherbe und setzte das dem kranken Vater vors Bette. Feuer hatten sie nicht mehr auf dem Herd gehabt seit langer Zeit. Hier galt es zu retten und helfen ohne Ansehen der Person, aber wie?«

Der Mann, der dieses Elend 1832 in seiner Schrift Hamburgs wahres und geheimes Volksleben festhält, ist gerade 24 Jahre alt, hat eben sein Theologiestudium abgeschlossen und steht ganz am Anfang eines erzieherischen, sozialen und christlichen Wirkens, das in diesen Wochen aus Anlass seines 200. Geburtstages am 21. April vielfach gerühmt und gefeiert wird – sogar mit einer Sonderbriefmarke der Deutschen Post. Doch wer ist dieser Autor, wer ist Johann Hinrich Wichern wirklich gewesen?

Alle Enzyklopädien nennen zwar die wichtigsten Stationen seines Lebens, aber daraus wird noch lange kein Lebensbild, das neben all den Verdiensten auch die tiefen Widersprüche und Irrungen hervortreten ließe. Wichern, so lesen wir da in gepresster Lexikonprosa, setzte sich, geprägt von der Erweckungsbewegung, mit den durch die industrielle Revolution und ihre sozialen Probleme gegebenen Herausforderungen an die Kirche auseinander. Er gründete 1833 angesichts des Kinderelends in Hamburg das Rauhe Haus. Auf einem Kirchentag in Wittenberg 1848 gab er den Anstoß zur Gründung des Centralausschusses für die Innere Mission. 1856 wurde er als Oberkonsistorialrat und Vortragender Rat im Ministerium des Inneren in Berlin mit der Gefängnisreform betraut. 1858 gründete er in Berlin das Johannesstift. Wichern war eine der prägenden Persönlichkeiten der christlich-sozialen Bewegung in Deutschland. So weit das lexikalische Stichwort, die dürre Chronik von Leben und Werk.

Rettender Glaube, rettende Tat: Am Anfang steht das Erweckungserlebnis

Nun aber zu den farbigen Aspekten seiner Existenz, zu den Paradoxien und Widersprüchen! Sie fangen schon damit an, dass Johann Hinrich Wichern eindeutig ein Mann der Kirche war – aber doch nie einer ihrer Pfarrer oder Amtsträger; selbst als Berliner Konsistorialrat war er preußischer Staatsbeamter. Anders als die staatsobrigkeitlich verfasste und sozial blinde Kirche seiner Zeit hat er die nackte Not der von Pauperisierung und Proletarisierung bedrückten Massen am Beginn der industriellen Revolution wahrgenommen und als direkte Herausforderung für Christen erkannt. Das allein schon lässt Wichern als Licht- und Hoffnungsgestalt hervortreten, ähnlich wie seine Hamburger Mitbürgerin Amalie Sieveking, wie Christian Heinrich Zeller im badischen Beuggen, Theodor Fliedner in Kaiserswerth und der genau drei Monate vor Wichern geborene Wilhelm Löhe in Neuendettelsau; fast eine Generation später zählt Friedrich von Bodelschwingh in Bethel zu den Gründerfiguren der evangelischen Diakonie.

Aus diesem Umkreis wiederum hebt sich Wichern ab als der entschiedene Kirchenpolitiker und Sozialpolitiker, spätestens seit seiner fulminanten Rede auf dem Wittenberger Kirchentag im Herbst der 1848er Revolution. Die tiefste Paradoxie aber seiner Existenz: Wichern unterschied sich einerseits vom sozial erstarrten Christentum seiner Zeit durch seine aufgeweckte Wahrnehmung der großen Not; andererseits aber glich er ebendieser Kirche in der Unfähigkeit, die Ursachen der Verarmung und der Auflehnung politisch angemessen als Modernisierungskrise zu verstehen und ihr anders als restaurativ zu begegnen.

Woher aber kam seine soziale Sensibilität? Zwei Quellen darf man dafür vermuten: zum einen die familiäre Herkunft und zum anderen die theologische Orientierung Wicherns. Er stammt selbst – neuhoch-deutsch gesprochen – aus dem Prekariat. Der Vater hat sich aus einfachen Verhältnissen und vom Fuhrmann emporgearbeitet, zunächst zum Schreiber, dann, dank des Selbststudiums mehrerer Sprachen, zum Übersetzer, schließlich zum Notar und Geschäftspartner eines Schiffsregistrators. Wichern ist 15 Jahre alt, als der Vater stirbt und die Mutter von nun an mit sieben Kindern ums Überleben zu kämpfen hat. Er muss als Ältester mit Privatstunden zum Unterhalt der Familie beitragen. Sein Gymnasium, das Hamburger Johanneum, verlässt er und wird Erzieher an einer privaten Internatsschule. Daneben belegt er Vorlesungen am Akademischen Gymnasium und holt so das Abitur nach. Sein Theologiestudium in Göttingen und Berlin kann er nur aufnehmen, weil mehrere Persönlichkeiten seiner Heimatstadt, darunter der Senator Martin Hudtwalcker und Amalie Sieveking, sich auf einem Subskriptionsbogen für ein Stipendium zugunsten des jungen Mannes einschreiben.

Der angehende Theologiestudent Wichern – und das ist nun die zweite Quelle für seine soziale Sensibilität – wendet sich der Erweckungsbewegung zu. Er schließt sich also einer pietistischen Strömung im Protestantismus an, für die der Glaube nicht nur eine Sache der starren Dogmen, sondern vor allem eine Sache des bewegten Herzens ist. Solcher Zuwendung geht häufig ein spontanes »Erweckungserlebnis« voraus – etwas, das aus dem bisherigen Durchschnittschristen oder -bürger einen newborn christian macht, einen völlig neuen Menschen.

So findet sich im Tagebuch des 19-jährigen Wichern unter dem 19. September 1827, ein Jahr vor seiner Immatrikulation in Göttingen, folgender Eintrag: »Damals wurde mir […] alles Lernen und Auffassen unendlich schwer, alles blieb unklar, ich schien wirklich ungeheuer beschränkt. […] Der Durchbruch geschah […], als Gottes Geist mich anfing von neuem zu gebären. Das Licht des Evangelii erleuchtete auch für mich die Wissenschaft.« Der Erweckung folgt dann eine praktische Einsicht: Wer an sich selbst die Rettung zum neuen Leben im lebendigen Glauben erfahren hat, muß nun auch die helfende, rettende Tat zugunsten anderer Menschen in deren Not folgen lassen. Dem neugeborenen Christen muß ein sozial abgestorbenes Christentum als ein ungeheurer Selbstwiderspruch erscheinen.

Nach seinem Studium verzichtet Wichern auf eine gesicherte Stelle im Hamburger Kirchenwesen. Er betreibt vielmehr in sozusagen zivilgesellschaftlicher Initiative, also ohne jede staatliche oder klerikale -Zuwendung, die Gründung des Rauhen Hauses zur Rettung verwahrloster Jugendlicher. Hamburger Bürger unterstützen dieses Vorhaben finanziell. Senatssyndikus Karl Sieveking stellt ein Grundstück und ein heruntergekommenes kleines Landhaus vor den Toren der Stadt zum Umbau zur Verfügung. In diesem »Rettungshaus« soll Kindern und Jugendlichen so etwas wie ein familiärer Rückhalt geboten werden. Das ist einerseits gütig gemeint, denn alles bisher Gewesene soll beim Eintritt ins Rauhe Haus vergeben sein; andererseits streng, weil die jungen Menschen dicht in das Leben ihrer jeweiligen Gruppe, ihrer neuen »Familie«, eingebunden werden. Nicht mehr als zwölf Zöglinge sollen in einer Gruppe zusammenleben. Am 8. November 1833 ziehen die ersten drei Jungen ein. Amanda Böhme, mit der Wichern 1835 die Ehe schließt, unterstützt ihn tatkräftig.

Weder die Einrichtung noch der Name »Rettungshaus« ist von Wichern erfunden worden. Schon 1813 hat Johannes Falck ein solches Haus in Weimar gegründet, Graf von der Recke-Volmerstein 1822 eines in Düsseltal bei Düsseldorf. Bemerkenswert an Wichern ist sein doppelt ganzheitlicher Ansatz – rettender Glaube und rettende Tat: »Wie der ganze Christus im lebendigen Gotteswort sich offenbart, so muß er auch in den Gottestaten sich predigen, und die höchste, reinste, kirchlichste dieser Taten ist die rettende Liebe.« Am Ende seiner späterhin so berühmten Wittenberger Stegreifrede von 1848 verdichtet Wichern diesen Sachverhalt zu dem unvergesslichen Merksatz: »Die Liebe gehört mir wie der Glaube.«

Doch im Blick auf die verwahrlosten Jugendlichen und auf all die drängenden sozialen Probleme der Zeit hat auch die »Rettung« eine ganzheitliche Dimension – und das in einem bezeichnenden Zirkelschluss: Zunächst sieht Wichern die Entchristlichung und Gottlosigkeit des Volkes als Ursache der sozialen Missstände. Die von ihm angestoßene »innere Mission« des eigenen, seinerzeit wenigstens pro forma und auch de jure (also praktisch auch von Staats wegen) immerhin getauften Volkes setzt dann aber zunächst die Behebung der schlimmsten Not voraus. Dies wirkt wie eine in die positive Handlung gewendete Vorwegnahme des Satzes aus Brechts Dreigroschenoper: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.« Aber Wichern gibt sich nicht zufrieden mit rein materieller Hilfe. »Rettung« heißt für ihn die Rettung des Leibes um der Seele willen.

Aus heutiger Sicht muss man allerdings die Frage stellen, weshalb denn die Entchristlichung des Vol-kes auch in der Wohlstandsgesellschaft ungehindert weiter fortschritt. Und außerdem: War die Überwindung des Massenelends vorwiegend der »inneren Mission« zu verdanken und nicht etwa vor allem ganz säkularen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Anstrengungen, Kämpfen und Erfolgen? Aber mit solchen Nachfragen nähert man sich schon jenem Wichern, der – über seine konkreten Initiativen wie das Rauhe Haus und seine Reformarbeit im Berliner Gefängniswesen sowie die Gründung des Berliner Johannesstiftes hinaus – schließlich zu nationaler kirchenpolitischer wie sozialpolitischer Bedeutung heranwuchs. Weithin sichtbar wurde dies bei Wicherns Auftritt auf dem Wittenberger Kirchentag im September 1848.

Wicherns Auftritt in Wittenberg wird zur Gründungsstunde der Diakonie

Man darf diesen Kirchentag freilich nicht mit den heutigen großen Laientreffen verwechseln, mit der sich fröhlich feiernden Kirche von unten. Damals ging es um die Kirche von oben, und zwar im Zeichen der nationalen Einheit. Einige Kirchenmänner versuchten, den deutschen Protestantismus in einer Kirche zusammenzuführen. Es ging darum, die Zersplitterung in lauter getrennte Kirchentümer entlang der Grenzen der vielen Einzelstaaten und Duodezfürstentümer zu überwinden. Daraus ist damals nichts geworden – und im Grunde ist dieser Prozess bis heute nicht abgeschlossen, denn die EKD ist rein kirchenrechtlich »nur« eine Vereinigung ihrer nach wie vor selbstständigen lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen.

Der Wittenberger Kirchentag wäre heute also längst vergessen, hätte Wichern seinerzeit nicht bis zur letzten Minute darauf gedrungen, dass das Thema der »inneren Mission« und der dafür vorausgesetzten diakonischen Arbeit noch auf die Tagesordnung gesetzt wurde. »Es muß und wird zum Bewußtsein kommen«, so insistierte er, »daß unsere evangelische Kirche eine Volkskirche werden muß und kann, indem sie das Volk durchs Evangelium in neuer Weise und Kraft zu erneuen und mit neuem Lebensodem aus Gott zu durchdringen hat.«

Um Volkskirche zu werden – von Wichern stammt dieser heute oft ganz anders verwendete Begriff –, reiche es also nicht aus, dass man die Amtskirche nur national und institutionell verfasst. Sondern das Volk muss geistlich neu missioniert werden, und dazu wiederum muss die Kirche neu entdecken, dass sie zuvor sich der sozialen Nöte anzunehmen hat. Der inneren Mission, erklärt Wichern, müsse als einer der »Hauptgrundsätze […] der Satz voranstehen«: ›Kommen die Leute nicht in die Kirche, so muss die Kirche zu den Leuten kommen.‹«

Angesichts der modernen Entchristlichung unter den Bedingungen einer Wohlstandsgesellschaft kann man sich fragen, weshalb in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die evangelische Kirche in ihrer Sozialarbeit den Wichernschen Arbeitstitel und die Corporate Identity namens »innere Mission« schamhaft aufgegeben hat. Schämte man sich wirklich der missionarischen Dimension des Glaubens – selbst wenn man sie zeitgemäß interpretiert? Wollte man (mit Dietrich Bonhoeffers Worten) nur noch Kirche für andere sein, ohne sich allzu deutlich auch als Kirche erkennen zu geben? Erst seit der Jahrtausendwende, nachdem Mitgliederzahlen und Kirchensteuereinkünfte beängstigend absackten, spricht man im deutschen Protestantismus wieder von der Mission im eigenen Land.

Das Vertrauen in den preußischen König bleibt unerschüttert
Auf dem Wittenberger Treffen konnte Wichern durchsetzen, dass im Januar 1849 der »Central-Ausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche« gegründet wurde. Übrigens wurde auch der diakonische Arm des deutschen Protestantismus – ähnlich der EKD als Dachverband der Gliedkirchen – erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter einem Dach zusammengeführt, seit 1957 unter dem Namen »Diakonisches Werk«.

Doch Wichern dachte an eine Wohlfahrtspflege der christlichen Gemeinde, die sich aus Zuwendungen der einzelnen Christen unmittelbar selbst trägt. Heute setzen die Diakonie, die katholische Caritas und andere, nichtkonfessionelle Wohlfahrtsträger vorwiegend das um, was der moderne Sozialstaat mit seinen Sicherungssystemen erstattet. Eine Diakonie aber, die über diese bedeutsame »Erstattungsdiakonie« hinaus auch dort wirken könnte, wo kein Sozialstaat hinreicht, und die sich ihrer missionarischen Dimension ganz unverschämt bewusst ist – sie bleibt auch 200 Jahre nach Wicherns Geburt und 160 Jahre nach seiner Wittenberger Rede eine Herausforderung.

Das also ist das helle Licht, das von Wichern bis heute ausstrahlt. Zugleich muss man ihn aber auch in den Grenzen seines Denkens und seiner Zeit sehen. Die 1848er-Revolution und die sich revolutionär gebende Arbeiterbewegung konnte er nicht als Elemente einer Modernisierungskrise verstehen. Er sah in ihr nur einen weiteren Ausdruck jener Sündhaftigkeit und Gottlosigkeit, die doch erst zu jener Verwahrlosung und Verelendung führten; gerade gegen die aber hatte sich der Aufruhr gerichtet. Die schroffe, ja geradezu militante Abwehr all dieser politischen Reformverlangen wirkt regelrecht erschreckend – gerade angesichts Wicherns sozialer Empathie und jedenfalls aus heutiger Sicht.

Doch politische Analysen, ja Kritik sind Wicherns Sache nie gewesen. Im Grunde traute er dem König mehr zu als dem Volke – ausgerechnet jenem frömmelnden und vom Gottesgnadentum schwadronierenden Friedrich Wilhelm IV., der die deutsche Kaiserwürde, die ihm von den Männern der Paulskirche angetragen worden war, abgelehnt hatte. Eine Krone aus der Hand des Volkes galt dem Hohenzollern nur als »imaginärer Reif aus Dreck und Letten«. Dieser König hatte im März 1848 nicht nur Demokraten niederschießen lassen, sondern sozusagen in Personalunion – denn er war ja auch protestantischer summus episcopus – als Bischof etliche seiner Gemeindeglieder; so hat es der Diakoniewissenschaftler Gerhard Wehr zu Recht formuliert.

War der Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts eine Gegenbewegung zur Orthodoxie gewesen, so stand die Neo-Orthodoxie ebenso wie der Neo-Pietismus, also die Erweckungsbewegung, im 19. Jahrhundert einem rationalistischen Zweig des Protestantismus gegenüber. Dieser Zweig freilich war nach der notwendigen Aufklärung spirituell ausgedünnt und gewann an Liberalität, was er an Glaubenssubstanz nur zu oft verlor. Auf diese Weise trug eine denkwürdige Koalition aus dogmennaher und menschenferner Orthodoxie, konzentriert in der Amtskirche einerseits, und menschenfreundlicher Herzens- und Christusfrömmigkeit, versammelt in der Erweckungsbewegung andererseits, erst einmal zur Stabilisierung jenes längst überständigen Bündnisses von Thron und Altar bei – bis hin zur christlich-sozialen Bewegung des berüchtigten Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker mit seinen reaktionären Predigten und antisemitischen Reden. Aus jener Welt ragt nun aber Johann Hinrich Wichern heraus, gerade auch in seinem eklatanten (Selbst-)Widerspruch zwischen Reformation und Restauration.

All dieses aufreibende Werben und Kämpfen für die soziale Dimension des Protestantismus hatte Wichern schließlich erschöpft. Erst 58 Jahre alt, trifft ihn 1866 ein erster Schlaganfall, 1872 kehrt er ins Rauhe Haus zurück, löst dabei eine Führungskrise aus, baut, wie man heute so herzlos sagt, weiter ab und stirbt nach langem Siechtum am 7. April 1881. Sein Werk aber lebt weiter, so möchte man schließen, wenn man dieses Werk nur auch in jenen Dimensionen entdecken wollte, die man teils zu Recht, teils aber zu Unrecht beiseitegeschoben hat.

Quelle und Rechte: Die ZEIT vom 17. April 2008, Autor: Robert Leicht

Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung