Wofür Kirchen gebraucht werden

Ein Beitrag zur Frage, wie viele Kirchen es geben muss

04. April 2008


„Wofür brauchen wir Kirchen?“ Eine spannende Frage, die für Spieler mancher Computerspiele völlig einfach zu beantworten ist: „Civilization“ von Sid Meier oder die „Anno“-Spielreihe. In diesen Spielen, in denen virtuell eine Gesellschaft und einen Lebensraum gestaltet werden muss, benötigen die Spieler wie selbstverständlich ab einer gewissen Zivilisationsstufe nicht nur Feuerwehr und Wasserversorgung, sondern auch Kirchen, in weiterer Stufen sogar Kathedralen.

Keine Zivilisation kann auf Kirchen verzichten, wenn sie weiterkommen will: „Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauchte ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhof und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik. Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge, wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte." Das schreibt der Schweizer Philosophen und Schriftstellers Peter Bieri (unter dem Synonym Pascal Mercier) in seinem Roman „Nachtzug nach Lissabon“.

Aber auch in der individuellen Biographie wird die Bedeutung der Kirchengebäude schnell deutlich: Wer weiß noch sein Taufdatum? Wer weiß, was es damals zu Essen gegeben hat? Auch den taufenden Pfarrer haben viele vergessen, aber viele wissen in welcher Kirche er oder sie getauft wurde. Ähnliches ließe sich auch mit Konfirmation, Hochzeit, auch der Beerdigung eines nahen Angehörigen nachweisen: Das Einprägsamste ist häufig der Raum, die Kirche, in der dieses Ereignis stattfand. Wenn es diese Kirche nicht mehr geben würde oder sie nicht adäquat genutzt wurde, würden Sie diesen Teil ihrer eigenen Lebensbiographie schädigen. Kirchen sind an verschiedenen Stellen des menschlichen Lebens identitätsstiftend. Einen Verlust dieser Kirchen bedeutet eine lebensbiographische Deformation. Dabei spielt es letztendlich keine Rolle ob es sich um eine stolze Barockkirche, eine kleine, unscheinbare Dorfkirche oder Betonkirche der Nachkriegszeit, an der der Zahn der Zeit schon nagt.

Kirchen sind der Gebäudetypus mitten in den Städte, der in Summa die ältesten unserer Städte und Dörfer darstellt – so viele alte Schlösser, Mühlen, Rathäuser, Stadtmauern, Burgen gibt es wahrscheinlich zusammen nicht wie es Kirchen gibt. Und obwohl wir den konservierenden Denkmalschutz erst in den letzten Jahrzehnten so richtig begriffen haben, sind Kirchen auch wahrscheinlich der Gebäudetypus, der noch am ursprünglichsten vorhanden ist und in seiner Funktion genutzt. Während alte Rathäuser inzwischen durch neue ersetzt werden, weil das Funk-Netz nicht durch Steinmauern dringt, ist der Einbau von Sitzbankheizungen für manche Kirchen der größte Einbau von High-Tech in den letzten Jahrhunderten. Kirchen sind bewahrte Geschichte, Stein gewordenen Erinnerung einer Gemeinschaft. Sie abreißen hieße die Geschichte eines Dorfes, einer Stadt, einer Region abreißen. Kirchen sind für unsere Gemeinschaft identitätsstiftend, weil sie uns mit der Vergangenheit verbinden. Ein Verlust dieser Kirchen bedeutet eine gemeinschaftsbiographische Deformation.

Doch Kirchen sind nicht nur individualistisch oder nostalgisch zu betrachten. Kirchen geben uns persönlich und unserer Gemeinschaft Zukunft. Erst durch sie finden wir unsere Identität.

In ihr, das haben viele Menschen oft in den letzten Jahren erlebt, findet etwa gemeinsame, kollektive Trauer einen Ort, an dem der Einzelne mit seinem Entsetzen und seinem Erschrecken nicht allein ist; ein Ort, an dem zu spüren ist: Es gibt noch mehr als wir zur Zeit vielleicht glauben können, einen Ort, an dem man Hoffnung schöpfen kann, dass Gottes Verheißungen auch in solchen Situationen gelten. Dieser Ort kann kein Privathaus sein, kein Rathaus, kein Sportstadion, dieser Ort muss eine Kirche sein. Und diese Kirche muss für die Menschen vor Ort sein, muss erreichbar sein. Wenn Menschen, die immer wieder Kirchen in Frage stellen, vor lauter Rationalität und Kommerzdenken alle Kirche wegdiskutiert haben, werden wir irgendwann einmal merken, dass wir damit auch unsere Zukunft als Menschen, als Individuen, mit Freude, mit Trauer, mit Hoffnung, wegrationalisiert haben.

Wer dafür einen Beweis braucht, darf Computerspieler fragen. Genauso wenig wie sich in diesen Spielen eine Zivilisation weiterentwickelt, wenn man keine Kirche oder nicht genügend Kirchen baut, genau so schnell schrumpft eine Gesellschaft wieder, wenn das Spiel meldet: „Deine Kirche ist wegen Baufälligkeit eingestürzt“.