Gründervater der Diakonie vor 200 Jahren geboren

Erinnerung an Johann Hinrich Wichern

02. Januar 2008


Im Winter 1813/14 steht die Stadt Hamburg im neunten Jahr unter französischer Besatzung. Tausende fliehen vor zunehmenden Repressalien ins benachbarte, damals dänische Altona. Oder noch weiter weg. Unter den Flüchtlingen ist auch ein fünfjähriger Junge mit seinen Eltern. Er heißt Johann Hinrich Wichern. Als Erfinder des Gleichklanges vom „Tat-Wort“ gilt er heute als „Gründervater der kirchlichen Diakonie“.

Das frühkindliche Fluchterlebnis beschreibt der Münchner Theologe, Journalist und Wichern-Biograf Uwe Birnstein als eines der prägendsten Lebensmotive Wicherns. Ein zweites kommt hinzu: Als Wichern 15 Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Der Junge ist Halbwaise. Er hat sechs kleinere Geschwister, die Jüngste ist gerade mal ein Jahr alt. Fortan muss Wichern seiner Mutter helfen, die Familie durchs Leben zu bringen.

Kinder auf der Flucht oder in Not - Wichern weiß, wie das ist. Als Erziehungsgehilfe und Privatschullehrer lernt er später Hamburger Elendsquartiere kennen. Er stellt fest, dass tröstende Worte des Evangeliums allein nicht reichen: Hilfe muss her, ganz konkret. Nicht nur Reden oder Fordern, sondern Tun, Anpacken. Und dies möglichst professionell - das sind bis heute zentrale Leitsätze kirchlicher Diakonie.

Dank eines Stipendiums kann Wichern in Göttingen, Berlin und Hamburg evangelische Theologie studieren. Dabei faszinieren ihn Dogmen- und Kirchengeschichte weit weniger als die praktische Relevanz des Christentums: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“, schreibt Wichern. Schon ein Jahr nach seinem Examen ermöglichen einflussreiche Gönner in Hamburg die Erfüllung seines Traums: Der Syndikus Karl Sieveking stellt 1833 eine alte Bauernkate als „Rettungshaus“ für Kinder und Jugendliche zur Verfügung - Geburtsstätte der Evangelischen Stiftung „Das Rauhe Haus“ für heute mehr als 1.300 Kinder und Jugendliche sowie über 2.000 Schüler und Studenten mit mehr als eintausend Mitarbeitern.

Die Kinder im „Rauhen Haus“ leben in familienähnlichen Strukturen, betreut von „Brüdern“, für deren Ausbildung Wichern sorgt. Künftig werden sie Diakone heißen. Auf dem ersten evangelischen Kirchentag in Wittenberg hält Wichern im September 1848 eine flammende Rede zur „Gründung des Centralausschusses für die Innnere Mission der evangelischen Kirche“ - woraus später das „Diakonische Werk“ entsteht.

Ab 1851 engagiert sich Wichern als Beauftragter des Königs Friedrich Wilhelm IV. für die preußische Gefängnisreform, wechselt sogar 1857 in den Staatsdienst über und ist bis 1872 Direktor des Mustergefängnisses Moabit, in dem er Diakone („Brüder“) des Rauhen Hauses aus Hamburg als Aufseher anstellt.

Im Mai 1872 kehrt Wichern nach Hamburg zurück, ein Jahr später übernimmt sein Sohn Johannes die Vorsteher-Tätigkeit im „Rauhen Haus“. Im selben Jahr wird die Schiffermission im Hamburger Hafen gegründet. Nach mehreren schweren Schlaganfällen stirbt Johann Hinrich Wichern am 7. April 1881.

Dietrich Sattler, neunter Vorsteher des „Rauhen Hauses“ seit Wichern, nennt seinen großen Vorgänger „einen der originellsten und praktisch begabtesten Theologen des 19. Jahrhunderts“.

Bischof Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der EKD, ist vor allem von Wicherns „Unternehmergeist aus christlichem Glauben“ beeindruckt. Das Besondere sei dessen Grundidee, „Glauben und Liebe als gleichgewichtige Grundelemente“ zu verstehen und dem konkrete Gestalt zu geben. Das Besondere an Wichern macht Huber zufolge aus, dass er Glaube und Liebe als gleichgewichtige Elemente christlicher Existenz verstanden habe. Auch lasse sich von Wichern lernen, dass diakonisches Handeln eine seelsorgerliche und eine missionarische Dimension habe: "Jedes helfende Handeln geschieht unabhängig von den Voraussetzungen der Person, die der Hilfe bedarf."

Die gesellschaftlichen Ursachen von Verelendung habe Wichern besser verstanden als andere, da er sich selbst dem Elend ausgesetzt habe, argumentierte Huber. Allerdings habe Wichern dieses Phänomen auf eine Weise individualisiert und moralisiert, die den Menschen nicht gerecht geworden sei.

Wichern-Jubiläen seien immer Gefahr gelaufen, nur die starken Seiten herauszustellen und die etwas dunkleren Seiten nicht zu behandeln, gab der Berliner Bischof zu bedenken. Er fügte hinzu: "Der 200. Geburtstag könnte sich dadurch auszeichnen, dass man die Größe dieser historischen Figur auch darin zur Geltung kommen lässt, dass man zugibt, dass es dort, wo viel Licht ist, auch Schatten gibt."

Bischof Huber hat sich deshalb für eine Neubestimmung der Verhältnisses von Kirche und Diakonie ausgesprochen. Angesichts der Konkurrenzsituation auf dem Markt sozialer Dienstleistungen dürfe an dem engen inneren Zusammenhang von Diakonie und Gemeinde nicht gerüttelt werden, sagte der Ratsvorsitzende einem Interview der Zeitschrift "zeitzeichen", das in der Januar-Ausgabe erscheinen wird. Es gebe ein gemeinsames Bewusstsein, dass Kirche und Diakonie zusammenrücken und sich besser abstimmen müssten als in der Vergangenheit.

Von den Kirchengemeinden sei zu klären, wo sie sich diakonisch engagierten. Die Zusammengehörigkeit von Glaube, Liebe und Hoffnung müsse sich auf allen Ebenen christlicher Gemeinde zeigen. "Die Einbindung großer diakonischer Träger und regionaler Diakonischer Werke in die jeweilige Region bietet Chancen, die noch gar nicht voll genutzt sind." Diese Zusammengehörigkeit müsse auf allen kirchlichen Ebenen zum Ausdruck kommen, empfahl Huber.

Hinweis:
Uwe Birnstein: Der Erzieher - Wie Johann Hinrich Wichern Kinder und Kirche retten wollte. Wichern-Verlag Berlin, 120 Seiten, 9,95 Euro,

Dietrich Sattler: Anwalt der Armen, Missionar der Kirche. Agentur des Rauhen Hauses Hamburg, 144 Seiten, 8,80 Euro

Friedrich Löblein, Die Liebe gehört mie wie der Glaube. Ein Wichern-Lesebuch, Karlshöhe Ludwigsburg, 167 Seiten, 8,00 Euro.