Elisabeth – eine evangelische Heilige?

Wir feiern den 800. Geburtstag der Elisabeth von Thüringen

05. Juli 2007


Katholische und orthodoxe Christen sprechen von Heiligen, ja sie sprechen sie an. Das weiß jeder, der den Papst und den Dalai Lama unterscheiden kann. Dass evangelische Christen auch ein positives Verhältnis zu Heiligen haben können, ist weniger bekannt. Was interessiert Evangelische an den Heiligen?

Ein erster Punkt des Interesses: Die Nötigung, die Gegenwart nicht zu vernachlässigen, das ist das, was uns die Heiligen mit auf unseren Weg geben. Denn, wenn etwas die sehr unterschiedlichen Heiligen unserer Kirchengeschichte vereint, dann ist es der Umstand, dass sie mit zum Teil sehr ungewöhnlichen, ja oft lebensgefährlichen Aktionen auf die aktuellen Herausforderungen ihrer Zeit reagierten.

Wie Elisabeth nach der Herkunft der Lebensmittel auf ihrem Tisch fragte, ob sie denn Raub oder ehrlich erworben seien, wie sie eine Hungersnot in Thüringen großzügig bekämpfte und wie sie von ihrem Vermögen ein Spital in Marburg errichtete, ja, wie sie selbst Aussätzige pflegte, das alles beweist, wie sie sich den Problemen ihrer Zeit buchstäblich hautnah widmete.

Wer sich Heiligen und ihren Taten zuwendet, stößt unmittelbar auf die Probleme je ihrer Zeit. Unsere Betrachtung dieser Vorbilder im Gottvertrauen kann und darf darum nicht von den Problemen unserer Zeit ablenken, sondern sollte eher zu ihnen hinführen.

Das Thema „Heilige“ ist uns Evangelischen nicht fremd. Die Reformatoren haben trotz des ausufernden Heiligenkultes in der damaligen katholischen Kirche positiv festgehalten:

„Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf“. (CA21)

Das bedeutet: Als Heilige im Besonderen gelten nach evangelischem Verständnis Christinnen und Christen, die für andere zu einem Vorbild im Glauben und in der Nachfolge Jesu geworden sind, deren Glaubensweg auch für Nachgeborene als so tröstlich, ermutigend wie wegweisend empfunden wurde und wird. Damit ist zum einen das Tatzeugnis gemeint, also das Gottes Willen entsprechende Verhalten. Zum anderen gehört dazu, dass diese Menschen zu Boten der gnädigen Zuwendung Gottes, also zu Wortzeugen geworden sind.

Da die Geschichte der evangelischen Kirchen nicht erst mit der Reformation beginnt, sondern eine bestimmte Fortsetzung der Alten Kirche und der Kirche des Mittelalters ist, gehört zu unserer Tradition neben den altkirchlichen Bekenntnissen ebenfalls die dankbare Erinnerung an die Wort- und Tatzeugen der ersten anderthalb Jahrtausende unserer Kirchengeschichte. Als Heilige im evangelischen Sinn können wir somit Menschen bezeichnen, deren Lebenszeugnis und Glaubenskraft in solcher Weise verbunden war, dass dies zum Glauben und christlichen Handeln auch an anderem Ort, zu anderer Zeit und unter anderen Umständen ermutigt. Dabei möchte ich festhalten, dass auch Heilige im engeren Sinn ihr Leben lang der Gnade Gottes bedürfen. Auch für sie gilt, dass sie „Gerechte und Sünder“ zugleich sind. Ein realistisches, biblisch gegründetes Menschenbild wird von keinem Menschen erwarten und verlangen, dass er ohne jeden Fehl und Tadel durchs Leben geht.

Elisabeth von Thüringen – modern, fremd, richtungweisend

Das hervorragende und mit unserer Thüringer Geschichte in hohem Maß verbundenes Beispiel für eine Heilige, an die sich zu erinnern lohnt – nicht nur im Elisabethjahr -, stellt die ungarische Prinzessin Elisabeth dar.

Aus ihrem kurzen Leben ist eine Fülle von Taten und Verhaltensweisen überliefert, die nicht nur ihren Zeitgenossen eindrücklich waren, sondern bis heute staunen lassen. Mit einer Radikalität, die auch heute merkwürdig, ja z. T. befremdlich wirken muss, folgte sie dem Beispiel des Franziskus von Assisi und seiner Bewegung. Wir wissen, dass sie sich Aussätzigen in den schmutzigen und stinkenden Gassen Eisenachs zuwandte. Es wird berichtet, sie habe sie umarmt, ihnen die Füße gewaschen, ja sogar ihre Geschwüre geküsst. Der Grund dafür: In ihnen sucht sie die Nähe zu Jesus Christus. Die Legende vom Aussätzigen im Ehebett, der sich plötzlich in die Gestalt des Gekreuzigten verwandelt, führt diese Art der Frömmigkeit eindrücklich vor Augen.

Sie hat hinter den von Not gezeichneten Gesichtern noch andere Gesichtszüge gesucht. In diesen Ebenbildern Gottes wollte sie das Antlitz des Gottessohnes entdecken. Sie sah das Antlitz des Gekreuzigten gewissermaßen als das Licht der Welt aufleuchten, das diese Gesichter erleuchtet, sie durchscheinend macht, wie die Kerze ein Transparent.

Doch nicht nur den Einzelnen galt ihre Fürsorge, sondern auch dem ganzen Land, für das sie sich verantwortlich fühlte. Im Frühsommer 1226 erlebte Deutschland den Höhepunkt einer Hungersnot. Aufzeichnungen aus Reinhardsbrunn, dem landgräflichen Hauskloster, und andere Quellen beschreiben die trostlose Lage: Harte Winter, heiße Sommer, Dürre und Überschwemmungen. Über Jahre schon fielen die Ernten mehr oder weniger aus. Mehl wurde mit Erde gestreckt, die letzten Tiere verzehrt, selbst Hunde und Katzen. Nur Wohlhabende konnten noch Wucherpreise für Lebensmittel zahlen. In dieser Situation nutzte Elisabeth ihre Schlüsselgewalt und ließ Lebensmittel, Getreide und auch Geld verteilen. Zeitweise soll sie bis zu 900 Menschen verköstigt haben. Erstaunlich, dass ihr Mann nach seiner Rückkehr die Beschwerden des Hofes zurückgewiesen und ihr im Wesentlichen Recht gegeben hat.

Es gibt viel zu erzählen von Elisabeth, von den Spitälern, die sie in Eisenach und Marburg errichtet hat, von ihren heute wenig verständlichen Bußübungen bis zu dem harten Schicksal, das sie mit 20 Jahren zur Witwe machte. Elisabeth war eine junge Frau voller Facetten – naiv, politisch, emanzipiert, erotisch, fromm, fanatisch. All dies wird im kommenden Jahr über sie gesagt und befragt werden. Doch das Wichtigste ist ihre Frage an uns:

Was tut ihr heute für die Ärmsten?

Wie entdeckt ihr das Antlitz Jesu Christi in ihren Gesichtern?

Armut als bleibende Herausforderung

Das Thema „Armut“ ist offensichtlich nicht erledigt, sondern kommt auf uns mit einigem Nachdruck erneut zu. Wie die Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland vom Juni 2006, wie die EKD-Synode vom Anfang November 2006 in Würzburg zum Thema „Gerechtigkeit erhöht ein Volk...“, wie die Debatte über die jüngste Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur „neuen gesellschaftlichen Unterschicht“ beweisen, wird uns diese zentrale Aufgabe in die nächsten Jahre und Jahrzehnte begleiten.

Dabei ist uns besonders wichtig, in diese Debatte einzubringen, dass es nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit gehen kann, sondern – so der Titel der EKD-Denkschrift – um „Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität“. Nur das Streben nach Befähigungsgerechtigkeit und Beteiligungsgerechtigkeit, nur die Ermöglichung von Teilhabe an den materiellen wie kulturellen Reichtümern, also auch an Bildung, kann die Teufelskreise von Armut, mangelnder Bildung und Arbeitslosigkeit durchbrechen, die eine Generation nach der anderen in ihren Bann ziehen.

Barmherzigkeit? – Barmherzigkeit zielt auch auf Gerechtigkeit!

Im Elisabethjahr stehen uns die „Werke der Barmherzigkeit“ vor Augen. Wir lesen und hören von konkreter Hilfe an bestimmte Menschen, an Einzelne – und zwar ohne zu fragen, ob sie die Hilfe verdienen, wie schuldig oder unschuldig sie an ihrer Lage sind. Barmherzigkeit wendet sich der unmittelbaren Not zu und will diese lindern. Sie sollte aber nicht als Wohltätigkeit von oben (herab) missverstanden und denunziert werden, sondern sie will Not lindern und denen helfen, die sich zeitweilig als Hungernde und Durstige, als Gefangene und Nackte, ja selbst als Tote nicht (mehr) selbst helfen können. Barmherziges Handeln kann auch das Ziel einschließen, die Notleidenden zu befähigen, wieder für sich selbst zu sorgen. Barmherzigkeit zielt dann auf Gerechtigkeit.

Die Werke der Barmherzigkeit – die soziale Aufgabe und die diakonische Gemeinde

Es gäbe unendlich viel von Elisabeth zu berichten und zu bedenken – auch manches Fremde an dieser Jugendlichen, dieser sehr jungen Frau. Manches wird uns fremd bleiben wie die Trennung von ihren Kindern. Dennoch fasziniert mich an ihrem spontanen und überlegten, dem einzelnen Hungernden und Kranken zugewandten, aber auch die strukturelle Ungerechtigkeit wahrnehmenden Handeln, dass sie beides zusammenhalten konnte: Die Fürsorge, die sich auf eine ganze Region erstreckt, und die schnelle persönliche Hilfe.

Sehe ich recht, werden wir auch heute im 21. Jahrhundert immer wieder die Aufgabe haben, in Strukturen zu denken, für Gerechtigkeit zu sorgen und den sozialen Ausgleich zu fördern. Das gemeinsame Sozialwort der Katholischen und Evangelischen Kirche von 1997 hat diesen Aspekt mit dem Stichwort „Sozialkultur“ bzw. schöner als „Kultur des Erbarmens“ bezeichnet. Zugleich aber können wir nicht nur strategisch die großen Ziele herausstellen, sondern müssen genauso intensiv das menschliche Elend vor unserer Haustür (und nicht nur dort) wahrnehmen und lindern.

Die Föderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland  will das Elisabeth-Gedenken deshalb verbinden mit einem Elisabeth-Handeln und dort helfen, wo Hilfe dringend notwendig ist. Tansania zählt zu den zehn ärmsten Ländern der Erde. Die Kindersterblichkeit ist 20 Mal höher als in Deutschland. Jedes sechste Kind erlebt in Tansania seinen fünften Geburtstag nicht. Wir wollen helfen, in Orkesumet eine Geburtsstation zu bauen. Wir feiern den Geburtstag der heiligen Elisabeth. Ein Geburtstagsgeschenk von 10, 20 oder 50 Euro für das Tansania-Projekt kann helfen, Leben zu retten.

Der Leitspruch der Elisabeth: „Selbst arbeiten, trösten, mit Heiterkeit wirken“ zeichnet drei Dimensionen, die uns bis heute eine Richtung weisen: Die Arbeit für die Minderung von Not, Unfreiheit und Gewalt; der Trost für die Betroffenen, die jetzt unter Not, Unfreiheit und Gewalt leiden; und die Heiterkeit, die sich aus einem tragfähigen Gottvertrauen speist, das die letzte Wirklichkeit hinter unseren Realitäten zu schauen vermag.

Autor: Landesbischof Christoph Kähler (Eisenach), Stellv. EKD-Ratsvorsitzender

2007 - Das Elisabeth-Jahr der Föderation evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland

800 Jahre Elisabeth von Thüringen - Eine Aktion der Evangelischen Kirchen in Hessen

Ein Geburtstagsbrief der EKD-Kulturbeauftragten an Elisabeth von Thüringen