Zu Fuß zu Gott

Pilger-Wanderungen auf "Jakobswegen"

12. Januar 2007


An Weggabelungen und Abzweigungen stoßen Wanderer in ganz Deutschland immer häufiger auf das Zeichen einer Muschel. Die Spitze der Muschel gibt den Weg an und zeigt stets in eine Richtung: auf den alten spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela. Im Mittelalter gehörte das Grab des Apostels Jakob in Compostela neben Rom und Jerusalem zu den Hauptzielen der Christenheit. Aus den entferntesten Winkeln Europas zogen die Pilger zu Fuß nach Spanien, ihr äußeres Erkennungszeichen war die "Jakobsmuschel", das Attribut des Apostels. Auf den beschwerlichen Fußmärschen diente die Muschel den Wanderern auch als Trinkgefäß.

Die Reformation und vor allem die Kriege zwischen Spanien und Frankreich brachten diese Pilger-Tradition nahezu zum Erliegen. Seit einigen Jahren ist der uralte Jakobsweg, der "Camino de Santiago" von der französischen Grenze nach Compostela, wieder neu entdeckt worden. Jahr für Jahr sind allein in Deutschland rund 800.000 Menschen auf Teilstrecken und einzelnen Wegabschnitten unterwegs. Rund 100.000 Pilger erreichen Santiago, den Endpunkt der Etappen. Was vor Jahrhunderten als ausschließlich religiöse Frömmigkeitsübung begann, zieht heute Menschen aus den verschiedensten Nationen und mit unterschiedlichstem religiösen Hintergrund an.

Auch die Kirche und Religion eher fern stehenden Wanderer werden von der ganz besonderen Atmosphäre der Fußreise auf den alten Wegen in Bann geschlagen und finden zu den ganz grundsätzlichen Fragen über Gott und die Welt. Wie der 22-jährige Markus S., Student der Informatik und Philosophie in Frankfurt am Main, erzählt, hatte er sich von seiner 15-tägigen Fußreise auf dem letzten Wegabschnitt vor Santiago ein sportliches Erlebnis und einen Aktiv-Urlaub versprochen.

Auf der Wanderung habe dann jedoch der Weg selbst, das intensive Erlebnis von Natur und Landschaft, zu spirituellen Erfahrungen geführt. Denn als Pilger-Wanderer laufe man buchstäblich aus seinem Alltag heraus und erfahre wieder, mit wie wenigen äußeren Mitteln, einem kleinen Rucksack, Wasser und Taschenlampe, ein Mensch auskommen kann.

Der Regensburger Arzt Ulrich S. ist immer wieder neu beeindruckt von der Solidarität der Wanderer untereinander, den Pilger-Herbergen und den teils uralten Kirchen und Klöstern am Wegrand. Den Wanderern rät der Arzt, der auch schon Wallfahrer medizinisch betreut hat, keine zu langen Tagesmärsche zu planen und sich nur mit soliden, sehr gut eingelaufenen Wanderstiefeln auf den Weg zu machen. Als Vorbereitung für einen längeren Pilgerweg seien mindestens 20 längere Tageswanderungen nötig, rät der Mediziner.

Die spirituelle Dimension des Pilgerns wird inzwischen auch von der evangelischen Kirche, der nach ihrem theologischen Verständnis Wallfahrten eher fremd sind, durchaus positiv gesehen. Die Kirche müsse offen sein für alle Formen, mit der Menschen wieder ganz neu mit Religiosität und Spiritualität in Berührung kommen, sagt Oberkirchenrat Thies Gundlach, Leiter der Abteilung kirchliche Handlungsfelder im Kirchenamt der EKD in Hannover. Bei den Pilger-Wanderungen erlebten viele Menschen die Kirchen als wunderbare Besinnungs- und Ruhe-Oasen für Seele und Leib.

Auch die evangelische Kirche, so der Münchner "Tourismuspfarrer" Mathis Steinbauer, setzt immer stärker auf die Bewegung als Weg zu Gott und Glauben. Deshalb baut die Kirche in ein neues Gemeindezentrum in Scheidegg im Allgäu, an der Gabelung des österreichischen und Schweizer Jakobswegs, gleich ein Begegnungszentrum und Unterkunftsräume für Pilger mit ein.

Die hannoversche evangelische Landeskirche hat im Frühjahr 2006 den ersten ökumenischen Pilgerweg in Niedersachsen eröffnet, der vom Kloster Loccum bis nach Volkenroda in Thüringen führt. In Mecklenburg-Vorpommern sind allein in diesem Jahr vier neue Jakobswege als Etappen zu dem großen Ziel Santiago de Compostela hinzugekommen. Insgesamt beträgt das verästelte Wegenetz dieser teils schon Jahrhunderte alten Wege in Europa inzwischen 100.000 Kilometer.

Die verschiedenen, oft ehrenamtlich agierenden Gruppen und "Jakobsweg-Freundeskreise" wollen jedoch nicht nur das alte Wegenetz erweitern, sondern die Pilger-Fährten für ganz neue Personengruppen öffnen. Die überkonfessionelle Initiative "Pilgern bewegt" aus Berlin hat es sich zum Ziel gesetzt, Pilgerwege "barrierefrei" zu machen. Auch Blinde, Rollstuhlfahrer und Behinderte sollen an das große Ziel Santiago de Compostela gelangen können und dabei womöglich wie viele ihrer Mitpilger ganz neu zu sich selbst finden.