Sechzig Jahre alt und dennoch jung

Das Ökumenische Institut Bossey

25. Oktober 2006


Ein Schloss inmitten der stillen Weinberge oberhalb des Genfer Sees scheint ein ungewöhnlicher Ort für die Heranbildung zukünftiger kirchlicher Verantwortungsträger/innen. Und dennoch ist das Ökumenische Institut des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Bossey seit seiner Gründung vor 60 Jahren ein einzigartiges internationales Zentrum, in dem der christliche Dialog gepflegt und reiche Lernerfahrungen gemacht werden.

Diese Woche traf die jüngste Gruppe von rund vierzig künftigen Führungsverantwortlichen aus fast ebenso vielen Ländern in der Schweiz ein. Sie werden ein fünfmonatiges intensives Semester der "Ökumenischen Hochschule" absolvieren. Alle haben bereits einen ersten Hochschulabschluss erworben und entdecken mit Begeisterung die Gegebenheiten und Angebote am Ökumenischen Institut sowie die Gelegenheiten, sich mit anderen über ihre vielfältigen Überzeugungen und Traditionen auszutauschen.

Das Institut wurde 1946 von Dr. Wilhelm Visser 't Hooft, dem ersten Generalsekretär des ÖRK, ins Leben gerufen, um zur Heilung des vom Krieg traumatisierten Europa beizutragen. An den ersten Studienangeboten nahmen Überlebende der Konzentrationslager, ehemalige Militärangehörige und Mitglieder von Widerstandsbewegungen teil. Hauptziel war es, den Dialog wieder aufzunehmen und Versöhnung zu fördern. Daneben entwickelte sich Bossey schnell zu einer anerkannten akademischen Institution mit Verbindungen zur Universität Genf, die Studierende aus aller Welt anzog.

Einer der neu eingetroffenen Studierenden, Fritz-Gerald Romulus, baptistischer Pfarrer aus Haiti, betont, Bossey biete ein einzigartiges Studienumfeld. Es werde ihm praktisches Werkzeug für die kirchliche Arbeit zu Hause an die Hand geben, wo, so räumt er ein, das Misstrauen gegenüber der Ökumene in den Kirchen zuweilen tief sitze.

Für Pfarrer Tegwende Kinda von der Reformierten Kirche in Burkina Faso ist Dialog kein Luxus, sondern kann von existenzieller Bedeutung sein. "Meine Teilnahme hier kann mir dabei helfen, an meiner theologischen Kultur zu arbeiten und mein Verständnis für den Dialog zu stärken. Das ist in dem mehrheitlich muslimischen Umfeld, aus dem ich komme, dringend notwendig ist, denn allzu leicht entstehen Missverständnisse zwischen Kirchen und Religionen."

Das Institut wird zuweilen als "ökumenisches Labor" beschrieben, da es immer wieder Christinnen und Christen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammenführt, die sich gemeinsam mit den komplexesten und kontroversesten Themen beschäftigen, vor denen die Kirchen stehen.

Der ehemalige ÖRK-Generalsekretär Konrad Raiser ist dieses Jahr Gastprofessor in Bossey. Er sieht das Institut als Raum, der in besonderer Weise Begegnung ermöglicht, ungeachtet vorhandener kirchlicher oder gesellschaftlicher Spaltungen.

"Die Freiheit, die Bossey gewährt, ermöglicht es den Studierenden, sich kreativ und offen Fragen anzunähern, die zu den schmerzlichsten gehören, mit denen Kirchen und Gemeinschaften konfrontiert sind. Ein solcher Ansatz wird in unserer Zeit dringend gebraucht", stellt Raiser fest.

Außer der Ökumenischen Hochschule und weiteren Graduiertenprogrammen bietet Bossey eine Reihe von Seminaren an, die vielfältige Themen behandeln: Religion und Gewalt, Dialog zwischen Orthodoxen und Protestanten, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, feministische Theologie und anderes.

Die lange Liste der Absolventen/innen des Instituts umfasst Hochschullehrer/innen, Ökumenereferenten/innen, Bischöfe/innen, Geistliche wie auch Verantwortungsträger/innen aus Politik und Zivilgesellschaft auf allen Kontinenten. Selbst ein Ökumenischer Patriarch gehört dazu. Mehr als 25 000 Menschen aus praktisch allen Kirchen, Konfessionen und Kulturen haben im Verlauf der 60 Jahre seines Bestehens an Veranstaltungen in Bossey teilgenommen.

Der Institutsleiter, Ioan Sauca, orthodoxer Theologe aus Rumänien und selbst Absolvent des Instituts, erklärt, dass Studierende in Bossey "24 Stunden am Tag" lernen. "Das wichtigste und das Leben am meisten verändernde Element der ökumenischen Bildung ist jedoch das geistliche Leben", betont Sauca.

Neben dem formellen akademischen Unterricht nehmen die Studierenden in Bossey an täglichen gemeinsamen Andachten teil, bereiten sie vor und leiten sie. Die Spiritualität stehe also im Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens, erklärt Sauca. "Die vielfältige Gruppe von Studierenden versammelt sich trotz tief empfundener Unterschiede als eine authentische Gottesdienstgemeinschaft und bezeugt damit, dass Christen und Christinnen ein Leib mit vielen Gliedern sein können." Die diesjährige Ökumenische Hochschule steht unter dem Thema "Ökumenische Spiritualität".

Die anglikanische Studentin Anna Eltringham ist überzeugt, dass die Erfahrungen in Bossey Leben verändern können. "Für mich ist Bossey ein Ort, wo vorgefasste Meinungen ihre Bedeutung verlieren können und so ein neues Verständnis dafür wachsen kann, was es tatsächlich bedeutet, Leib Christi in der Welt zu sein. Am intensivsten lässt sich dies im spirituellen Leben des Instituts erfahren, wo tiefe Authentizität und große Freude am Kennenlernen interkultureller und interkonfessioneller Formen des Betens und der Andacht spürbar sind."

Bossey ist sechzig Jahre alt und dennoch jung - es fehlt nicht an Zukunftsvisionen. So soll z.B. die spirituellen Gemeinschaft am Institut durch verstärkte Kontakte zu christlichen Gemeinschaften an anderen Orten vertieft werden. Eine weitere Initiative sieht vor, Theologie mit praktischer Sorge für die Schöpfung zu verbinden, etwa durch die Vermittlung biologischer Anbaumethoden an zukünftige Studierende, von denen nach ihrer Zeit in Bossey viele in Entwicklungsländer zurückkehren.

Ein weiterer Plan sieht einen interreligiösen Sommerkurs für junge Menschen aus den größeren Weltreligionen vor, um Dialog und gegenseitiges Verständnis über den traditionellen christlichen Kontext hinaus zu fördern. Im Jahr 2005 wurde am Institut ein ökumenisches Forschungszentrum eingerichtet, das schwerpunktmäßig gerechte, harmonische und tragfähige Beziehungen zwischen Kulturen und Religionen fördern will.

Für Dr. Sauca steht das Ökumenische Institut auch nach sechs Jahrzehnten noch am Anfang seiner Arbeit. "Die gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche, die wir weltweit beobachten können, und die rasanten Veränderungen in der christlichen Welt machen dieses von einmaliger Vielfalt geprägte Zentrum für Begegnung und Lernen so notwendig wie selten zuvor. Die Kirchen - und die Welt - brauchen auch heute ein Bossey."

Das Ökumenische Institut Bossey