"Es sind unsere Söhne und Töchter, die in die Ideologie hineinwachsen"

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Manfred Kock, über Rechtsradikalismus, Religionsunterricht und die Pflicht zum Gedenken


Interview in der Frankfurter Rundschau

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred Kock, appelliert an Schulen und Kirchen, sich in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen gegen Rechtsradikalismus zu stemmen. Lehrer müssten dazu befähigt werden, ihren Schülern wieder Respekt vor dem Fremden und dem Schwachen zu vermitteln. Mit Kock sprach in Düsseldorf FR-Reporterin Katharina Sperber.

Frankfurter Rundschau: Herr Präses Kock, derzeit wird viel über Rechtsradikalismus in Deutschland diskutiert, wie kann man die Sensibilität für das Thema erhalten?

Manfred Kock: Zunächst freue ich mich, dass das Thema so aufgebrochen ist. Wir wissen wieder, dass wir ein ungelöstes Problem im Land haben. Sorge macht mir, dass die öffentliche Debatte wieder verpuffen könnte. Das darf nicht geschehen.

Anfang der 90er Jahre, nach dem Anschlag von Solingen, hatten die Menschen schon einmal Lichterketten initiiert und Politiker Konsequenzen gefordert. Doch die Öffentlichkeit hat sich ihre Wachsamkeit nicht erhalten.

Ich habe damals gesagt: Junge Menschen, die in diese Ideologie hineinwachsen, sind unsere Söhne und Töchter. Und wir müssen uns fragen, warum sind unsere Kinder so geworden? Wir machen uns Illusionen, wenn wir meinen, wir könnten mit spektakulären Aktionen das Problem lösen. Wir brauchen in den Schulen einen anderen Umgang mit jungen Leuten. Sie lernen nicht von selbst, andere Menschen zu achten; es muss ihnen vermittelt werden. Es ist eine Illusion zu glauben, Kinder sind nur gut. Es steckt in jedem Menschen auch ein aggressives Potenzial. Jugendliche müssen lernen, wie man das zivilisiert. Auch unsere kirchliche Jugendarbeit darf nicht nur Treffpunkt sein. Wir sind eine Institution, die es den Menschen schuldig ist, Perspektiven zu entwickeln, Respekt zu lernen.

Dazu hatte die kirchliche Jugendarbeit mindestens zehn Jahre Zeit. Außerdem sind die Kirchen mitten in den Schulen, sie verantworten den Religionsunterricht.

Ich habe manchmal den Eindruck, die Religionslehrer sind die einzigen, die ethische Normen überhaupt noch in den Schulen traktieren. Sensibilität für das Fremde oder Schwache kommt als Kategorie in Deutsch- oder anderem Fachunterricht kaum noch vor. Es mag ja sein, dass es hie und da auch schlechte Religionslehrer gibt. Aber es gibt vor allem zu wenig Religionsunterricht, denn es herrscht die allgemeine Meinung vor: ach, das brauchen wir alles nicht mehr. Es darf nicht sein, dass in der Schule nur noch vermittelt wird, wie man sich am besten durchsetzt.

Sie sagen "man muss", "es darf nicht sein" - wen meinen Sie denn damit?

Ethische Normen müssen in Aus- und Fortbildung der Lehrer deutlicher entwickelt werden. In unseren Kirchen muss lauter darüber gesprochen werden, dass eine zivile demokratische Kultur sehr störanfällig ist. Das ist wieder ein Appell, aber ohne Appell wird niemand hören.

Es gibt in einzelnen Kirchgemeinden Projekte gegen Fremdenhass und Rechtsradikalismus. Doch die Kirchen sparen, müssten nicht solche Projekte mit mehr Geld ausgestattet werden?

Ich wünschte mir das. Es darf nicht sein, dass vordergründige Prioritätendiskussionen, solche Projekte für etwas weniger Wichtiges oder für etwas erklären, was der Staat eigentlich allein machen sollte.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo in Ostdeutschland Schwarze gejagt, Obdachlose misshandelt werden. Doch in den neuen Bundesländern ist die Kirche sehr schwach; dort kann sie doch gar nichts ausrichten.

Das ist wie mit dem Salz in der Suppe. Auch ein wenig davon zeigt Wirkung. Wir müssen uns aber davor hüten, zu meinen, Rechtsradikalismus gäbe es nur im Osten. Sicher gibt es dort Schwerpunkte, das hängt mit vielen orientierungsarmen jungen Leuten zusammen. Aber die Ideologie ist importiert. Sie stammt aus dem Westen, hier hat sie sich entfalten können schon in den Jahren vor der Vereinigung.

Sie richten Ihr Augenmerk auf die Jugend. Was ist aber mit den Erwachsenen, die wegsehen und nicht eingreifen, wenn ein Schwarzer verprügelt wird?

Wir Erwachsenen müssen uns tatsächlich fragen, wie wir Toleranz glaubwürdig repräsentieren können. Wenn die Politik zwischen nützlichen und schädlichen Ausländern unterscheidet, müssen wir darauf dringen, dass dies keine Kategorie sein darf. Denn der Skin wird die Unterscheidung nicht machen und alles in einen Topf werfen und draufhauen. Wir Erwachsenen müssen uns fragen, welche Botschaften wir aussenden. Ich bin sehr froh, dass wir über Zuwanderung diskutieren, aber wir müssen uns davor hüten, mit schlichten Aufteilungen zu einer anderen Mentalität zu gelangen.

Erziehen heißt auch erinnern. Was kann Kirche dazu beitragen?

Kirche selbst ist in die dunklen Seiten unsere Geschichte verwickelt gewesen. Sie hat nach 1945 begonnen, Lehren zu ziehen. Aber es muss mehr geschehen als nur zu erinnern, es geht auch um Gedenken. Das heißt, die im Gedächtnis halten, die haben leiden müssen. Und dafür Sorge zu tragen, dass nicht vergessen wird, wozu Menschen fähig sind.

Die Kirchen haben stets einen hohen moralischen Ton angeschlagen. Wenn es darum ging, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen - der Ausbeutung von Zwangsarbeitern oder die Beteiligung ihrer Behindertenheime an den Euthanasieprogrammen der Nazis - hat sie sich schwer getan. Hat das ihre Glaubwürdigkeit geschmälert?

Wir haben, Gott sei Dank, immer wieder Aufarbeitungsprozesse gehabt. Die Kirche hat nicht nur ihre Verwicklungen mit dem System offengelegt, sondern auch versöhnende Akte initiiert. Ich erinnere an "Zeichen der Hoffnung" in Polen oder die "Aktion Sühnezeichen".

Vor Jahren war "Aktion Sühnezeichen" bei jungen Leuten bekannt. Sie leisteten Versöhnungsdienst in Israel, in Frankreich, in Polen. Heute interessiert das nur noch wenige Jugendliche.

Wir erreichen immer noch mehr als wir eigentlich bewältigen können. Theoretisch könnten wir sogar mehr hinein bekommen, wenn wir mehr Geld dafür aufwenden würden. Und wir brauchen neue Impulse. Ein Sühnezeichen ist nicht nur dadurch zu setzen, dass man eine Baracke in Auschwitz konserviert. Es muss weitergehen; Toleranz muss eingeübt werden.

Aber ein Skinhead weiß gar nicht, was "Aktion Sühnezeichen" ist und wird es im Zweifel auch nicht attraktiv finden.

Vielleicht würden Jugendarbeitsformen, die sich diese Zielgruppe aussuchen, mit einem solchen Angebot eine große Überraschung erleben. Menschen können sich in einem Lernprozess verändern.

Es ist doch naiv zu glauben, "Aktion Sühnezeichen" könne Skins fesseln. Was bietet Kirche jungen Männern, die nach rechts abgedriftet sind?

Das ist eine spannende Frage. In diesen Tagen kann man Plakate lesen, auf denen steht "Nazis raus". Das ist Ausdruck guter Gesinnung. Aber wer das schreibt, macht einen Fehler. Man versucht die raus zu werfen, die hier sind. Wo sollen wir die denn hinschicken und wem sollen wir sie eigentlich gönnen? Deswegen sage ich nochmal: Es sind unsere Kinder. Wir müssen mit ihnen klarkommen und fertig werden. Junge Nazis sind oft schon abgeschrieben; das darf nicht sein. Die Unbelehrbaren aber müssen eine so kleine Gruppe bleiben, dass sie keinen Einfluss mehr haben.

Plädiert die EKD für ein NPD-Verbot?

Das sollen die Politiker entscheiden. Es spricht vieles dafür, die Organisationsstruktur der Rechten zu zerschlagen. Ich warne aber davor, zu glauben, dass mit einem Verbot der NPD, das Problem erledigt wäre.

Wird sich Manfred Kock an der Aktion "Gesicht zeigen" beteiligen?

Ja. Und ich werde mich als Präses und Ratsvorsitzender immer wieder zu Wort melden und alle unterstützen, die sich gegen den Rechtsradikalismus stemmen.

Frankfurter Rundschau
16.08.2000