Die vergessenen Kinder von Rjasan

Oldenburger Pfarrer setzt sich für die Zukunft dunkelhäutiger Jugendlicher ein

12. Dezember 2005


Es war ein sonniger Tag, als Olga Pereira vor 20 Jahren ihrem Liebsten das Ja-Wort gab. Eine Hochzeit wie jede andere auch und doch ganz anders. „Als wir nach der Trauung am Platz des Sieges Blumen niederlegten, da reckten die Leute ihre Köpfe aus den vorbeifahrenden Bussen, weil sie so etwas noch nie gesehen hatten“, erinnert sich Pereira mit einem verschmitzten Lächeln. Eine Braut, ganz in Weiß mit heller Haut – küsst überschwänglich einen Schwarzen. Angeblich war ihre Hochzeit damals erst die zweite in ganz Rjasan mit einem Ausländer. Und was 1985 exotisch war, ist 20 Jahre und eine Perestrojka später, zum echten Problem geworden. Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass, Rassismus – der Worte gibt es viele, die den Zustand beschreiben. Und in der Provinz, sagt Pereira, sei die Lage noch viel dramatischer als in den Metropolen wie Moskau oder St. Petersburg. Dort gäbe es einfach viel mehr Menschen, die anders aussehen. In Rjasan sind „Ausländer“ eher eine Seltenheit, obwohl noch immer viele Inder und Afrikaner aus Zaire, Angola und Simbabwe, den einstigen sozialistischen Bruderstaaten, zum Studium in die Halbmillionenstadt an der Oka kommen. Auch wenn seit 1990 die Industrie in der Stadt, die einst Radios baute und für ihre Elektrotechnik bekannt war, völlig zusammengebrochen ist, so funktionieren die Ausbildungsstätten doch weiter. Es gibt nach wie vor eine medizinische und eine technische Universität sowie eine Militärakademie, die auch der Mann von Olga Pereira in den frühen 80er Jahren besucht hatte. Der Kongolese blieb auch nach seinem Abschluss in Russland, viele andere Afrikaner, damals wie heute, fahren mit dem Diplom oder Doktortitel in der Tasche nach Hause – zurück bleiben Frauen und Kinder. Ein riesiges Problem, laut Pereira, die sich deshalb seit einiger Zeit für farbige Kinder und deren Mütter in Rjasan stark macht. Anfang des Jahres hat sie einen Verein gegründet, dem sie heute vorsteht. Schon das erwies sich als Abenteuer, erzählt die 43-jährige Enthusiastin: „Weil der Staat und die Stadt Fremdenfeindlichkeit nicht als ein Problem ansehen, wollten sie es auch nicht zulassen, dass dieser Verein gegründet wird.“ Nach vier Monaten des Wartens wurde dann im Mai der Verein „Semizwetnik“ (Halbfarbiger) offiziell registriert, mit inzwischen etwa 60 Mischlingskindern und deren Müttern als Mitglieder und regelmäßigen Treffen aller zwei Wochen in einem Raum in der Stadtbibliothek.

Pereira, die früher als Kindergärtnerin arbeitete, lebt mit ihren beiden halbwüchsigen Söhnen in einer Zwei-Zimmer-Plattenbauwohnung im Zentrum von Rjasan. Es ist gemütlich und aufgeräumt, im Wohnzimmer hängen Poster von gestählten Bodybuildern neben der Stereoanlage. Ihr „Großer“, Arthur, erzählt die Mutter stolz, sei Fitnesstrainer. Die Kraftprotze sind seine Vorbilder. Außerdem spielt der 19-Jährige Saxophon. Der „Kleine“, der mit seinen 14 Jahren die zierliche Olga um einiges überragt, sitzt im Zimmer nebenan am Computer. Auch er habe eine künstlerische Ader und sei ein Talent in bildender Kunst. Die Masken, die Antonio aus Ton fertigt, schmücken nicht nur die Wände der eigenen Wohnung, sondern sind auch ein beliebtes Geschenk. Die Gesichtszüge ihrer Jungs, die schwarzen Kräuselhaare und die grobe Gestalt erinnern Olga Pereira immer wieder an ihren Mann, der vor sieben Jahren bei einem Unfall ums Leben kam. Wenn auch auf andere Weise ist sie jetzt in derselben Situation wie ihre Bekannten, die auf sich selbst gestellt, die Probleme ihrer „farbigen“ Kinder bewältigen müssen. „Die Kinder haben Angst, sie werden von Skinheads verfolgt und nicht selten zusammengeschlagen“, erzählt sie und zeigt aus dem Fenster auf die Hakenkreuze, die auf die Wände der Nachbarhäuser geschmiert sind. Im neuen Russland hat sich die fremdenfeindliche Gesinnung in den letzten 15 Jahren verdoppelt, erklärte kürzlich der Leiter des Moskauer Büros für Menschenrechte, Aleksandr Brod. Ein aktueller Bericht stellt fest, dass zwischen 50 und 60 Prozent der Bevölkerung die Parole „Russland den Russen“ unterstützen würden. Dass es dabei oftmals weniger um die Nationalität als vielmehr ums Aussehen geht, zeigt sich ganz deutlich in Rjasan.

„Diese Kids sind viel russischer als ich es bin, auch wenn sie eine andere Hautfarbe haben“, erklärt Sonja Kalantajewa. Die 19-jährige Journalistin aus Rjasan, Tochter eines Baschkiren und einer Ukrainerin, hat sich dem Thema der Ausgrenzung farbiger Jugendlicher angenommen. Sie recherchiert seit einiger Zeit zu dem Thema, sie sprach mit Olga Pereira von „Semizwetnik“ und mit anderen betroffenen Müttern, traf die Jugendlichen selbst, aber auch Behörden und Glatzköpfe aus der Skinhead-Szene von Rjasan. „Ich weiß, dass Diskriminierung existiert, und deshalb will ich sie ansprechen“, erklärt die junge Reporterin. „Von staatlicher Seite heißt es einstimmig, dass es damit kein Problem gibt.“ Dabei würden immer wieder farbige Jugendliche auf der Straße angehalten und nach ihren Papieren befragt, obwohl das laut Gesetz nur erlaubt ist, wenn die Leute betrunken oder verhaltensauffällig sind. „Da muss sich etwas ändern und ich habe als Journalistin die Möglichkeit zu helfen, indem ich darüber berichte, andere geben vielleicht Geld, ich spreche die Probleme in meinen Reportagen an“, erklärt die zierliche junge Frau mit fester Stimme.

„Wir brauchen solche Leute für unsere Arbeit“, sagt Pereira, die außerdem die deutsche evangelische Gemeinde in Moskau für ihre Arbeit gewinnen konnte. Im Sommer hatte sie Pfarrer Fridtjof Amling besucht und von ihm eine Spende von 15 000 Rubel (knapp 430 Euro) aus Kollektengeldern bekommen. Im Herbst reiste der Pfarrer selbst nach Rjasan, um sich die Arbeit der Vereinsvorsitzenden vor Ort anzuschauen und das Projekt richtig einschätzen zu können. „Unsere Moskauer Gemeinde will nicht einfach nur Geld geben, sondern bestimmte Projekte langfristig und gezielt unterstützen“, erklärt Amling, der als Gemeindepfarrer außerdem eine private Initiative für ehemalige Straßenkinder unterstützt sowie ein Besuchsprojekt in einem Moskauer Kinderkrankenhaus. Bei seinem Besuch hatte er neben einer weiteren Kollekte von 8 000 Rubel (230 Euro) auch Kleidung, Spielzeug und drei Computer im Gepäck. Diese finden im Computersaal der Bibliothek ihren Standort und sollen dabei helfen, die Kinder des Vereins in ihrer Ausbildung zu unterstützen. Edson und Schosmar, die beiden 16- und 17-jährigen Teenager, die beim Ausladen des Moskauer Gemeindebusses geholfen hatten, bekamen leuchtende Augen als sie die Tennisschläger erspähten, die unter den Mitbringseln waren. Die beiden Jungs kommen, wie viele ihrer dunkelhäutigen Altersgenossen, aus zerrütteten Familienverhältnissen und freuen sich über ein bisschen Normalität. Wie andere Kids in ihrem Alter, spielen sie gern Computerspiele, gehen im Winter Schlittschuhlaufen und hängen im Sommer mit Freunden ab. Wenn man sie nach Problemen fragt, winken sie ab, es sei alles normal. Ein typisches Phänomen, weiß auch die Journalistin Kalantajewa. „Die Jugendlichen fühlen sich nicht diskriminiert, sondern die Schikanen und Gängeleien sind längst Teil ihres Lebens.“ Und Olga Pereira betont: „Jeder soll ein Mensch sein dürfen, egal wie er aussieht oder was er besitzt – dafür will ich kämpfen“.