Zwei konträre Zivilreligionen

Staat und Kirche in Amerika und Deutschland / Von Wolfgang Huber

24. März 2005


Im Jahr 1952 veröffentlichte Reinhold Niebuhr, ein bekannter amerikanischer Theologe deutscher Herkunft, ein Buch über die "Ironie der amerikanischen Geschichte". Diese Ironie sah er darin, dass eine Nation, an deren Beginn eine kleine Schar geflohener Pilgerväter stand, die jenseits des Atlantiks das "verheißene Jerusalem" zu finden hofften, dazu verleitet wurde, diese Verheißung mit einem globalen Machtanspruch zu verbinden. Niebuhr hatte die Auswüchse der McCarthy-Ära vor Augen, in der ein militanter Antikommunismus sich mit dem amerikanischen Erwählungsbewusstsein verband. Er warnte davor, auf fundamentale Herausforderungen in einem fundamentalistischen Geist zu reagieren. Stattdessen solle man sich der "Ironie der amerikanischen Geschichte" bewusst bleiben und das Erwählungsbewusstsein nicht in den Dienst weltpolitischer Hegemonialansprüche stellen.

Der Glaube an die religiöse Berufung Amerikas nahm in der jüngeren Geschichte der USA sehr unterschiedliche Formen an. Diese Vision bündelte sich im Jahr 1963 in dem Satz: "I have a dream -- Ich habe einen Traum". Der baptistische Geistliche Martin Luther King beschwor den Traum von Freiheit und Gleichheit der Menschen. Dieser Traum verband sich nicht mit einem besonderen Herrschaftsanspruch, sondern mit der Forderung nach Gleichberechtigung der bisher Unterdrückten, mit dem Appell zu gewaltfreiem Widerstand. Eine Vision wurde sichtbar, die Kontinente und Religionen überspannt.

Die Rolle der Religion in der amerikanischen Politik hat seitdem einen tiefen Wandel durchlaufen. Noch vor drei Jahrzehnten wurde ihr für die politische Entwicklung keine Schlüsselbedeutung zuerkannt. Seit aber mit Jimmy Carter 1976 der erste "wiedergeborene Christ" zum Präsidenten gewählt wurde, änderte sich das. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erwachte weltweit der religiöse Fundamentalismus. Erneut erkannte man nun das Mobilisierungspotential eines religiös konservativen, evangelikal geprägten Protestantismus, wie er insbesondere im "Bible Belt" der Südstaaten lebendig war. Die religiöse Rechte gab nun der Zivilreligion eine Deutung, die von Niebuhrscher Ironie vollständig frei war. Die USA wurden nun als "Shining City upon the Hill" und als "God's Chosen Nation" dargestellt. Das darin begründete Sendungsbewusstsein wurde gegen eine "Religion des säkularen Humanismus" in Stellung gebracht, die man als den herrschenden Geist der Zeit ansah. Oder, mit einer Formulierung von Jürgen Habermas: Die "entleerende Säkularisierung" hat dem religiösen Fundamentalismus geradezu Raum geschaffen.

Ohne jede Selbstkritik

Die hohen Hoffnungen der religiösen Rechten, beflügelt durch die Wahl Ronald Reagans 1980, wurden rasch enttäuscht. Eine Politik, die sich vor allem auf fiskalische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aufgaben konzentrierte, erfüllte die Erwartungen nicht, wie sie in Deutschland zur gleichen Zeit unter dem Begriff der "geistig-moralischen Wende" formuliert und ebenfalls enttäuscht wurden.

Gegen Ende der achtziger Jahre änderte sich dann die Agenda der "wiedergeborenen Christen". Nicht mehr der Kampf gegen den "säkularen Humanismus", sondern die Wiederherstellung der Rechtskultur, nicht mehr der Kampf gegen Abtreibungsbefürworter, sondern das Eintreten für ein umfassendes Recht auf Leben, nicht mehr eine Kritik der Schulcurricula, sondern das Eintreten für die Lehren des Kreationismus im Namen der Lehr- und Lernfreiheit bestimmten nun die Agenda. Dies trug viel dazu bei, dass die evangelikal geprägten Kirchen wachsende Resonanz auch bei bisherigen Anhängern der protestantischen mainline-churches fanden.

Seitdem ist dieser Typ amerikanischer Frömmigkeit erstaunlich gewachsen. Seine Sinnbilder kann man in den evangelikalen Riesengemeinden wie Willow Creek oder Saddleback Mountain sehen. Inzwischen entwickeln sich die Megachurches zu "Gigachurches", die zehntausend und mehr Menschen zum Gottesdienst versammeln. Dort fügt sich die religiöse Rechte ein, umso mehr, als ihre weitergehende Radikalisierung vermieden werden konnte. Sie hat jedoch bewirkt, dass die religiös-politische Rhetorik sich verschärft hat, wenn es gegen vermeintliche oder tatsächliche Feinde der USA geht. Im Kampf gegen den Kommunismus war vom "Kreuzzug" ebenso die Rede wie im Kampf gegen den Terrorismus; Ronald Reagan sprach vom "Reich des Bösen", George Bush Jr. von der "Achse des Bösen". Oft ohne jede Selbstkritik wird der Glaube an Gott für ein solches manichäisches Weltbild in Anspruch genommen; die "Ironie der amerikanischen Geschichte" ist aus dem Bewusstsein geschwunden.

Für die Verbindung zwischen Religion und Politik bei gleichzeitiger institutioneller Trennung verwendet man in den Vereinigten Staaten den Begriff der "Zivilreligion". Der Soziologe Robert N. Bellah meint damit die nicht selbst politischen Quellen einer um des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens willen notwendigen Moralität. Sie bildet also eine der Formen, in denen in einer Gesellschaft Religion und Politik miteinander verzahnt sein können und so zur Stabilität der Gesellschaft beitragen. Institutionelle Kooperation kann eine andere Form darstellen. Mit dem ersten Fall haben wir es in den USA, mit dem zweiten dagegen in Deutschland zu tun. Amerika verträgt viel Zivilreligion, aber nur wenig institutionelle Verbindungen zwischen Kirche und Staat. Deutschland verträgt eine starke öffentliche Stellung der Kirchen, aber nur wenig Zivilreligion.

Klare Grenzziehung

Die Zivilreligion in Deutschland, wo sich kaum jemand als "wiedergeborener Christ" bezeichnet, ist eine negative Zivilreligion. Am klarsten formuliert hat sie der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in dem berühmt gewordenen Satz: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Der Staat verzichtet also darauf, selbst die Voraussetzungen zu definieren, aus denen sich Freiheitsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft erneuern. Aber es ist ihm nicht gleichgültig, ob es Institutionen gibt, die sich um den Inhalt und die Weitergabe solcher Voraussetzungen kümmern.

Er sieht sich zur Religionsneutralität verpflichtet. Aber er hat gute Gründe, diese Religionsneutralität mit einer die Religion fördernden Haltung zu verbinden. Seine Religionsneutralität verpflichtet den Staat grundsätzlich dazu, die Freiheit aller Religionen in gleichem Maß zu achten. Aber es kann ihm nicht gleichgültig sein, in welchem Verhältnis die Religionen zur Verfassung des freiheitlichen, säkularisierten Staates stehen. Insofern hat er eine besondere innere Affinität zu der Unterscheidung zwischen Staat und Religion, die eine unaufgebbare Voraussetzung für die aufgeklärte Säkularität der Rechtsordnung bildet.

Wenn man diese Konstellation beschreibt, ist auch deutlich, warum in den USA und in Deutschland auf die religiös plurale Situation der Gegenwart unterschiedliche Antworten gegeben werden. In den USA besteht keine Schwierigkeit darin, allen Religionen institutionell die gleiche Stellung einzuräumen. Denn es ist in jedem Fall eine Stellung diesseits der wall of separation; das staatliche Recht hat deshalb zu dieser gleichen Stellung der Religionen ohnehin nur wenig zu sagen. Doch in ihren inhaltlichen Aussagen werden die Religionen höchst wirksam daraufhin geprüft, inwieweit sie sich der herrschenden Zivilreligion einfügen. Man konnte das in der großen Trauerkundgebung für die Opfer des 11. September im Yankee Stadium in Harlem exemplarisch studieren. Alle Sprecher, Christen oder Juden, Muslime oder Sikhs, stimmten ein in das Lob Amerikas als der auserwählten Nation, für deren weiteres Geschick sie Gottes Segen erbaten. Angesichts der terroristischen Herausforderung demonstrierten sie die Zugehörigkeit zu einer Zivilreligion, die noch nie in der amerikanischen Geschichte in einer so deutlichen Weise religionsübergreifend formuliert worden war.

In Deutschland dagegen muss die Vorstellung einer gleichen Religionsfreiheit für alle auch institutionelle Gestalt annehmen. Die strukturellen Vorkehrungen des deutschen Staatskirchenrechts sind an Religionsgemeinschaften orientiert, die von sich aus darauf angelegt sind, dass sie auch Körperschaften des öffentlichen Rechts werden können. Mit den organisatorischen Bedingungen, unter denen der Islam gestaltet ist, lässt sich das nur schwer vereinbaren.

Aber wichtiger noch ist, dass dem Islam die Unterscheidung zwischen Religion und Politik fremd ist, auf die sich unsere Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche stützt. Die aufgeklärte Säkularität, auf der die Freiheitlichkeit unseres Gemeinwesens beruht, ist im vorherrschenden Verständnis des Islam und in den meisten seiner gegenwärtigen Gestaltungsformen nicht vorgesehen. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten ändern nichts daran, dass die Haltung gegenüber dem Islam von der Bereitschaft zur Toleranz und dem Willen zur Integration bestimmt sein muss. Doch wo die mangelnde Unterscheidung zwischen Religion und Politik sich mit manifest islamistischen Neigungen verbinden, sind klare Grenzziehungen unvermeidlich. Auch der Islam in Deutschland muss daraufhin befragt werden, was er zu den Voraussetzungen beizutragen imstande ist, auf die der freiheitliche, säkularisierte Staat angewiesen ist, ohne sie selbst hervorbringen zu können.

Als Europäer sollten wir unsere eigenen Auffassungen zum Verhältnis von Religion und Politik selbstbewusst vertreten. Das ist für die transatlantische Verständigung so wichtig wie für den Dialog mit dem Islam.

Der Autor ist Bischof der Berliner Landeskirche und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 24. März 2005