Huber: Barmer Thesen sind Dokument evangelischer Freiheit

epd-Interview mit dem EKD-Ratsvorsitzenden

28. Mai 2004


Hannover (epd). Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, würdigt die am 31. Mai 1934 verabschiedete Barmer Theologische Erklärung als Dokument evangelischer Freiheit. Mit den Barmer Thesen wiesen evangelische Christen den Machtanspruch der NS-Diktatur zurück, sagte Huber in einem epd-Interview. Die Fragen stellte Stephan Cezanne:

epd: Welche Bedeutung hat die Barmer Theologische Erklärung für heutige Christen?

Huber: Die Barmer Thesen von 1934 sind ein markanter und starker Text. Sie bilden bis heute eine hervorragende Quelle evangelischer Orientierung. Sie argumentieren von der Mitte christlicher Theologie her und behandeln einen Kernbestand von zentral wichtigen Fragen, mit deren Beantwortung die Kirche steht oder fällt. Als Schlüsseltext für evangelisches Selbstverständnis ist die Barmer Theologische Erklärung im Evangelischen Gesangbuch abgedruckt und damit allen im Gottesdienst und vielen auch zu Hause zur Hand.

Jesus Christus wird darin als der einzige Herr der Kirche bekannt, neben dem es keine Macht gibt, die an Christinnen und Christen einen weiter reichenden Anspruch erheben kann. Die Botschaft von der Gnade Gottes wird als die alles entscheidende Vorgabe der Kirche hervorgehoben. Sie auszurichten an alles Volk wird darum als die zentrale Aufgabe der Kirche bezeichnet. Nicht nur ihre Botschaft, sondern auch ihre äußere Gestalt soll sich ausschließlich an diesem Ziel ausrichten. Deshalb darf die Kirche nicht von innen her gesellschaftlichen oder politischen Zielen unterworfen oder ihnen von außen her gefügig gemacht werden.

Die Barmer Erklärung ist somit ein Dokument evangelischer Freiheit. Sie verpflichtet die Kirche dazu, diese Freiheit wahrzunehmen, und sie richtet die Erwartung an den Staat, diese Freiheit zu achten. Sie erinnert alle, die politischen Repräsentanten nicht weniger als die Staatsbürger, an ihre Verantwortung vor Gott und an ihre gemeinsame Pflicht, für Recht und Frieden einzutreten.

Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung hatten solche Feststellungen etwas Aufrührerisches. Ihre politische Bedeutung war auch in den Hinsichten klar, in denen sie nicht ausdrücklich formuliert wurden.

epd: In den Barmer Thesen werden weder die beginnende NS-Diktatur noch die Rassenpolitik direkt kritisiert. Hätten Sie sich eine deutlichere und vielleicht auch mutigere Sprache gewünscht?

Huber: Die Stärke der Barmer Theologischen Erklärung liegt in ihrer Konzentration. Ihre Verwerfungssätze lassen auch die Bedingungen der damaligen Zeit deutlich aufscheinen, wenn beispielsweise die falsche Lehre verworfen wird, die Kirche könne und müsse als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben dem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen. Dass der «Führerstaat» damit unvereinbar war und dass eine Ideologie von «Blut und Boden» sich damit nicht vertrug, musste jedem deutlich sein. Der unbeschränkte Machtanspruch der nationalsozialistischen Diktatur wurde auf diese Weise deutlich abgewiesen.

Aus heutiger Sicht wäre jedoch sehr zu wünschen, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes sich damit verbunden hätte, dass dieser Jesus Jude war und deshalb, wie Dietrich Bonhoeffer später sagte, auf der Seite seiner schwächsten und wehrlosesten Brüder und Schwestern, also der Juden, stand. Einzelne Christinnen und Christen haben sich dieser Einsicht entsprechend gegenüber Judenchristen und Juden verhalten. Aber die Kirche als Ganze hat erst spät, zum Beispiel in einer Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler 1936 oder in den Beschlüssen der altpreußischen Bekenntnissynode von 1943 in Breslau versucht, das Versäumte nachzuholen. Aus heutiger Sicht muss man sagen: Die Wirkung blieb zu schwach.

epd: Braucht die Kirche auch heute wieder ein modernes «Bekenntnis», das sich gegen aktuelle Fehlentwicklungen richtet?

Huber: Die Barmer Theologische Erklärung ist nicht aus der Überlegung heraus entstanden, ob es wohl an der Zeit sei, ein «modernes Bekenntnis» zu formulieren. Sie entstand aus der Not und der Bedrängnis ihrer Zeit. Angesichts dieser Situation haben sich auch Menschen an Formulierung und Verabschiedung dieses Bekenntnistextes beteiligt, denen jeder «Modernismus» denkbar fern lag. Auch politische Opposition war nicht das ursprüngliche Ziel. Manche der damaligen Synodalen hofften sogar darauf, dass Hitler der Bekennenden Kirche bei der Abwehr des Reichsbischofs Ludwig Müller und der Deutschen Christen zu Hilfe kommen werde. Nicht weil sie auf der Höhe der damaligen Zeit waren, sondern weil sie sich zur Konzentration auf das Evangelium verpflichtet wussten, schufen die Synodalen von Barmen einen Text, der auch heute noch von Bedeutung ist.

Das ganze christliche Leben sei Bekenntnis, hat Martin Luther gesagt. Die Kirche braucht deshalb immer glaubwürdige Formen des Bekennens, bezogen auf die aktuelle Situation. Ob dabei auch Bekenntnisse entstehen, die über die Zeiten hinweg eine so lang anhaltende Wirkung entfalten wie die Barmer Theologische Erklärung, hat niemand von uns in der Hand.

Barmen kann man als eine Auslegung des Ersten Gebots verstehen: «Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.» Das Erste Gebot wird auch heute verletzt: überall dort beispielsweise, wo der persönliche Besitz oder der wirtschaftliche Erfolg wie ein Götze verehrt wird. Um dem entgegenzutreten, braucht man nicht unbedingt ein neues Bekenntnis. Die Erinnerung an das Erste Gebot kann bereits zur nötigen Klarheit verhelfen.

Quelle: Evangelischer Pressedienst (epd)
28. Mai 2004