Grußwort beim Ratsempfang der EKD in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin

Otto Schily, Bundesminister

12. Dezember 2003


Anrede,

zunächst habe ich die Ehre, Ihnen die herzlichen Grüße des Herrn Bundeskanzlers zu übermitteln.

Er hätte sehr gerne – wie geplant – persönlich an dieser Feierstunde teilgenommen. Wie Sie wissen, kommt aber heute in Brüssel der Europäische Rat zu einer besonders wichtigen Sitzung zusammen.

Die Beratungen über den europäischen Verfassungsvertrag treten jetzt in die entscheidende Phase.

Die Kirchen in Deutschland haben diese Beratungen – wie schon die Vorarbeiten im Konvent – sehr aufmerksam verfolgt und mit konstruktiven Vorschlägen begleitet. Dafür gilt auch dem Rat der EKD mein doppelter Dank als Verfassungs- und als Kirchenminister.

Die Diskussionen und Entscheidungen über die künftige Konstitution der EU sind nicht immer einfach. In einer Union von bald 25 Staaten treffen sehr unterschiedliche Traditionen aufeinander.

Die Bundesregierung hat die Anliegen der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland nach Kräften unterstützt und in Europa zu Gehör gebracht.

Insbesondere hat sich die Bundesregierung dafür eingesetzt, einen ausdrücklichen Bezug auf die kulturellen und religiösen Wurzeln des heutigen Europas in die Präambel des Verfassungsvertrags aufzunehmen.

Dabei sollten sowohl die religiösen als auch die säkularen Traditionen berücksichtigt werden.

Der katholische Bischof Homeyer hat die Formulierung vorgeschlagen: „Schöpfend aus den griechisch-römischen, jüdisch-christlichen und humanistischen Überlieferungen …“

Das ist eine Formulierung, die auch die Unterstützung der Bundesregierung finden könnte (wobei ich persönlich sehr dafür wäre, auch den wichtigen kulturellen Einfluss der dritten Offenbarungsreligion mit aufzunehmen).

Ob es gelingen wird, die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten für einen abschließenden Vorschlag der italienischen Ratspräsidentschaft zu erhalten, muss sich nun in den Schlussberatungen zeigen.

Anrede,

der enge und konstruktive Austausch über den Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags ist Teil des ständigen und produktiven Dialogs, den Staat und Kirche in unserem Lande führen.

Für die gute Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren danke ich dem scheidenden Rat der EKD sehr herzlich.

Vor allem danke ich sehr herzlich dem bisherigen Ratsvorsitzenden für seine ausgezeichnete Arbeit.

Sehr verehrter, lieber Herr Präses Kock,  

Sie haben immer wieder eindrucksvoll bewiesen, dass die Verbindung von theologischer Durchdringung und politischer Wegweisung möglich ist.

Bei wichtigen Fragen waren Sie stets präsent: durch prägnante Reden, Predigten und Stellungnahmen. Sie haben für den Rat der EKD gesprochen als ein Mann des Wortes und der Schrift im besten reformatorischen Sinne.

Mit Ihrer ebenso deutlichen wie differenzierten Sprache haben Sie viele Menschen erreicht und zum Nachdenken über die großen Themen der Zeit angeregt.

Nach meiner Auffassung muss es immer einen Zusammenhang geben zwischen besonderen Glaubensüberzeugungen und allgemeinen Erkenntnismöglichkeiten. Diesen Zusammenhang haben Sie, sehr verehrter Herr Präses Kock, sehr lebendig erfahrbar gemacht.

Anrede,

ich habe keinen Zweifel, dass auch der neue Rat der EKD sich in wichtigen gesellschaftlichen Fragen zu Wort melden wird.

Sehr verehrter, lieber Herr Bischof Huber, 

als neuem Ratsvorsitzendem fällt Ihnen dabei eine herausgehobene Rolle zu. Wer Ihr öffentliches Wirken als Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg verfolgt hat, der weiß, dass Sie das offene Wort nicht scheuen.

Sie gehen Konflikten nicht aus dem Weg, sondern verstehen sie als Herausforderung zu Streitgespräch und Dialog.

Nach meinem Eindruck erwarten das die Menschen in unserem Lande auch von Ihnen und dem Rat der EKD.

Und zwar – das ist mein Eindruck – erwarten dies auch viele Menschen, die sich keiner Konfession zurechnen oder zumindest nicht aktiv am kirchlichen Leben beteiligen.

Anrede,

der Bedarf an Orientierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist offenkundig groß.

Nicht nur der Reformbedarf unserer Sozialsysteme, die tiefgreifende Erweiterung der Europäischen Union oder die Globalisierung der Wirtschaft stellen uns vor schwerwiegende Entscheidungen über unsere Zukunft.

Neue technische Möglichkeiten, in Prozesse am Anfang und Ende des menschlichen Lebens einzugreifen, haben die Frage nach dem Menschenbild aus der akademischen Sphäre mitten in den Kontext praktischer Medizin gerückt.

Sogar die Menschenwürde als Grundprinzip unserer Verfassung wird in juristischen Debatten neu verhandelt.

Zu diesen Fragen kann und darf die Kirche nicht schweigen. Sie muss im öffentlichen Raum das Wort ergreifen – wie andere gesellschaftliche Gruppen auch.

Sie kann dies aber, auf dem Fundament des Glaubens, vielleicht mutiger und entschiedener tun als andere.

Das ist zwar keine Garantie dafür, dass ihre Argumente sich im demokratischen Diskurs am Ende durchsetzen.

Die Kirche wird aber jene, die ihr fern stehen, auch in gesellschaftlichen Fragen nur dann überzeugen können, wenn ihre Vertreter überzeugend als Vertreter der Kirche sprechen.

Die Orientierung an der Wahrheit, die Sie im Evangelium finden, kann allen Menschen ein Beispiel für Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit sein, auch wenn nicht alle an dieser Wahrheit teilhaben.

Aber die Wahrheit kann nicht normiert werden. Der Wahrheit nähern wir uns in der ehrlichen Erkenntnissuche. Deshalb muss der normativen Debatte die ontologische Vergewisserung vorausgehen.

Anrede,

besonders wichtig scheint mir heute eine klare Position der Kirchen angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.

Auf zynischste Weise werden religiöse Überzeugungen und Traditionen missbraucht, um Hass und Gewalt, Zerstörung und Vernichtung zu rechtfertigen – wie es in der Geschichte leider immer wieder geschehen ist.

Gerade die Kirchen sind berufen, in dem, was ich die geistig-politische Auseinandersetzung nenne, das Wort zu ergreifen.

Der terroristische Missbrauch von Gottes Wort, auch wenn dieses unter dem Zeichen eines anderen Glaubens steht, fordert – so finde ich – alle Schriftreligionen zu einer Antwort heraus.

Fundamentalisten, gleich auf welcher Seite, dürfen keine neuen Religionskriege provozieren.

Deshalb halte ich den interreligiösen Dialog für äußerst wichtig. Und ich bin froh darüber, dass sich die Innenminister der Europäischen Union vor kurzem in Rom gemeinsam mit Vertretern der abrahamitischen Religionen getroffen haben, um diesen Dialog zu fördern.

Die Würde des Menschen und die Liebe zum Menschen sind allen Offenbarungsreligionen eingeschrieben.

Daher kann das Wort der christlichen Kirchen gemeinsam mit Juden und Muslimen für Toleranz und Frieden werben.

Für ihr Engagement im interreligiösen Dialog danke ich der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wichtige Beiträge dazu waren unter anderem die EKD-Studien „Christen und Juden“.

Schon kurz nach seinem Amtsantritt hat der neue Ratsvorsitzende der EKD das Verbindende von Christen und Muslimen betont.

Dafür, sehr geehrter Herr Bischof Huber, gilt Ihnen mein herzlicher Dank.

Anrede,

wir leben gewiss in keinen leichten Zeiten. Aber sind sie das jemals gewesen?

Vor sechs Jahrzehnten, also kein Lebensalter zurück, zerfleischte sich Europa auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs.

Heute leben wir in Frieden, in Freiheit und in Wohlstand – wobei das „wir“ inzwischen mehr als nur den (im Nachkriegseuropa begünstigten) Westen umfasst.

Die Kirchen haben an Neuanfang und Wiederaufbau großen Anteil gehabt. Sie haben zum Ende des Kalten Krieges maßgeblich beigetragen und auch die Deutsche Einheit entscheidend befördert.

Warum sollte Ihnen und uns nun bange sein?

Dass Sie den Wechsel im Rat der EKD zum ersten Mal mit einem Festakt in der Hauptstadt begleiten, können wir als deutliches Zeichen verstehen, dass Sie sich den Problemen der Zeit in der Mitte unserer Gesellschaft zuwenden.

Auch der erste Ökumenische Kirchentag vor wenigen Monaten hier in Berlin war ein kraftvolles und ermutigendes Aufbruchssignal.
Ich bin voller Zuversicht, dass wir die gemeinsamen Herausforderungen auch gemeinsam meistern werden.

Dafür wünsche ich Ihnen, sehr verehrter Herr Bischof Huber, in Ihrer Amtsführung eine glückliche Hand, Gottes Segen und uns allen eine erfolgreiche Fortsetzung des offenen und fruchtbaren Dialogs.