"Menschen Mut zu Kindern machen"

Interview des EKD-Ratsvorsitzenden mit der "WELT"

20. November 2003


Bischof Wolfgang Huber gilt als Verfechter einer politischen Kirche und ist neuer Ratsvorsitzender der EKD. Ein Gespräch über die Stimme der Kirche in den aktuellen Debatten, bessere Bedingungen für Familien, ökumenisches Miteinander und Fundamentalismus

DIE WELT: Sie stehen für eine Kirche, die dem Wind, der in der öffentlichen Debatte weht, nicht ausweichen will. Sie möchten sich politisch einmischen. Übernehmen Sie sich nicht?

Huber: Diese Art von Einmischung darf nicht unsere erste Aufgabe sein. Die Kirche lebt in erster Linie aus dem Gottesdienst, aus der Verkündigung und der seelsorglichen Zuwendung zu den Menschen. Das gilt erst recht für eine Kirche in einer missionarischen Situation. Damit ist die Tagesordnung für die EKD in den nächsten Jahren beschrieben. Diese Agenda bedeutet jedoch nicht, dass unsere Kirche sich aus der öffentlichen Diskussion heraushält. Das entspräche weder ihrem Auftrag, um Gottes willen für die Menschen da sein, noch ihrer Tradition.

DIE WELT: Lange war man sich nicht einig: Soll man das politisch-gesellschaftliche Engagement in den Vordergrund stellen oder die Evangelisation?

Huber: Die so genannte Missionssynode 1999 in Leipzig hat ein klares Signal gesetzt, dass wir diese Art von Flügelpolarisierung hinter uns gelassen haben. Das ist zugleich eine große Herausforderung, die Kirchenmitglieder so zu mobilisieren, dass sie im Stande sind, evangelische Antworten auf die Frage zu geben: Wie wird man Christ, wie bleibt man Christ?

DIE WELT: Auf Ihrer Synode in Trier hat Kardinal Lehmann von "konfessionsverbindenden Ehen" gesprochen. Ein neuer Akzent in der Ökumenediskussion?

Huber: Nein. Wir haben schon vor vielen Jahren gelernt, dass wir die konfessionsverschiedenen Ehen als konfessionsverbindende Ehen begreifen müssen. Ich war schon in meiner Heidelberger Zeit froh darüber, dass die südwestdeutschen katholischen Bischöfe in ihrer Pastoral darauf Rücksicht genommen haben. Kardinal Kasper hat auf dem Kirchentag bekräftigt, dass er als Bischof niemals Menschen zurückgewiesen hat, die aus einer solchen Situation heraus gemeinsam an der Messe teilnehmen und kommunizieren wollten. Hier haben wir einen der wichtigsten Ausgangspunkte dafür, dass wir gerade in einem konfessionell paritätischen Land wirkliche ökumenische Fortschritte erzielen müssen und können. Als evangelische Kirche haben wir 1975 in aller Form unsere eucharistische Gastbereitschaft erklärt.

DIE WELT: Noch haben die katholischen Bischöfe ihre pastoralen Möglichkeiten in dieser Frage nicht ausgeschöpft. Sind Sie hoffnungsvoll, dass dies noch geschieht?

Huber: Im Hinblick auf die Ökumene ist es wichtig, dass man die Balance zwischen langem Atem und Ungeduld bewahrt. Die Verpflichtung, nach der Einheit der Christenheit zu suchen, ergibt sich aus dem Gebet Christi, dass alle eins seien. Deshalb steht es uns gar nicht zu, skeptische Kalkulationen darüber anzustellen, wie schnell und wie weit es in der Ökumene gehen kann. Wir stehen in der Verantwortung des ökumenischen Miteinanders.

DIE WELT: Warum war es dann nicht möglich, zu Themen wie Agenda 2010 und Umbau des Sozialstaates ein gemeinsames starkes Wort zu sprechen?

Huber: Ein starkes ökumenisches Wort war das Wirtschafts- und Sozialwort von 1997, der Leitfaden für unser Bemühen um Solidarität und Gerechtigkeit. Die Umsetzung geschah in der Tat teilweise unabhängig voneinander. Die Besonderheit heute liegt darin, dass man genötigt ist, sehr schnell auf die sich entwickelnden Diskussionen einzugehen. Im Augenblick ist nicht die Zeit für ein gemeinsames Grundsatzwort, sondern für schnelle und intensive Reaktionen. Wenn Sie allerdings sehen, in welcher Einmütigkeit die Bevollmächtigten der katholischen und der evangelischen Kirche in Berlin ihre Gedanken in die Gesetzgebungsverfahren eingebracht haben, dann brauchen wir uns, was überzeugende ökumenische Gemeinsamkeit angeht, nicht zu verstecken. Dass bisweilen unterschiedliche Akzente gesetzt werden, ist kein Schade. Es geht nicht darum, einen christlichen "Einheitsblock" darzustellen. Zur Ökumene wird auch künftig gehören, dass wir unsere unterschiedlichen Prägungen zur Geltung bringen.

DIE WELT: Ökumene wird vielfach nur unter dem Blickwinkel katholisch-evangelisch gesehen. Ein Fehler?

Huber: Ja. Wir müssen auch die orthodoxen Gemeinden und die evangelischen Freikirchen mit einbeziehen.

DIE WELT: Lebensschutz in all seinen Formen steht wieder auf der Agenda. Werden die Kirchen neue Initiativen in Richtung Politik ergreifen?

Huber: In diesen elementaren Fragen kann die Politik niemals der einzige Adressat sein. Die Politik ist gefragt, wenn es um die rechtlichen Regelungen geht. Vorangehen muss aber die ethische Orientierung. Das gilt auch für das Thema Spätabtreibungen. Bevor man sich hier rechtlichen Regelungen zuwendet, muss man fragen: Wie gehen Menschen damit um, wenn sie die Nachricht von der Behinderung eines Embryos, eines Kindes bekommen? Wie gehen Ärzte damit um, wenn sie eine solche Diagnose stellen? Wie wird diese Diagnose in eine gute und intensive Beratung eingebettet? Wie werden Frauen freigehalten von dem Druck hin zum Abbruch der Schwangerschaft, der von verschiedenen Seiten auf ihnen lastet? Wie werden Männer daran gehindert, sich aus ihrer Verantwortung herauszustehlen? Die Zuspitzung nur auf die rechtliche Regelung ist eine Verengung, vor der ich warne, auch weil menschliches Leben nur mit der Mutter und nicht gegen sie geschützt werden kann. Bei Spätabtreibungen halte aber auch ich eine rechtliche Regelung für zwingend. Es gab bereits Ansätze.

DIE WELT: Gegenwärtig herrscht aber Stillstand.

Huber: Die Politik wird mit anderen Problemen in Atem gehalten. Zum Respekt vor ihr und zur Anmahnung der politischen Verantwortung gehört aber auch ein Stück Barmherzigkeit. Die Vorstellung, dass alles gleichzeitig gelöst werden könne, verträgt sich damit nicht.

DIE WELT: Eine Neuauflage der gesamten Debatte um Paragraf 218 lehnen Sie ab?

Huber: Es geht mir nicht um eine generelle Neuauflage dieser Diskussion. Es geht mir aber sehr wohl darum, dass der Gesetzgeber sich an den Auftrag des Verfassungsgerichts hält, nach einem angemessenen Zeitablauf zu prüfen, ob die Regelungen von 1995 der Verbesserung des Lebensschutzes gedient haben. Mir geht es nicht um eine Erneuerung der strafrechtlichen Diskussion, sondern um eine familienpolitische Debatte: Wie kann man Menschen Mut zu Kindern machen, wie kann man ausschließen, dass Kinder zum Armutsrisiko werden?

DIE WELT: Im Kontext der politischen Debatten der jüngsten Zeit ist von der Gefahr eines christlichen Fundamentalismus gewarnt worden. Wird jetzt die Fundamentalismus-Keule geschwungen?

Huber: Ich selbst bin auch schon Fundamentalist genannt worden, ich habe das gelassen hingenommen. Oft wird die Klarheit bestimmter religiöser Grundüberzeugungen abwertend als Fundamentalismus bezeichnet. Dem sollten wir widerstehen. Es gibt aber Haltungen, die mit einer Abwertung des Fremden verbunden sind, auch mit der Legitimation von Fremdenfeindlichkeit aus religiösen Gründen. Damit kann man sich nicht abfinden. Ich erinnere an den christlichen Antijudaismus, der seinen Beitrag geleistet hat zum Antisemitismus des 20. Jahrhunderts.

DIE WELT: Das Fundamentalismus-Schlagwort spielt auch in der Debatte über homosexuelle Lebensgemeinschaften eine Rolle. Droht Ihre Kirche an diesem Problem zu zerbrechen?

Huber: Nein. Es gibt unterschiedliche Positionen in der Bewertung biblischer Aussagen zur Homosexualität. Sie müssen ausgehalten werden. Wir anerkennen die Pflicht des Staates, Verantwortung und Verlässlichkeit auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu stärken. Vollkommen klar ist allerdings, dass die besondere Bedeutung von Ehe und Familie nicht angetastet werden darf. Ehe ist etwas anderes als eine gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft. Wenn ich das sage, diskriminiere ich nicht homosexuelle Menschen.

DIE WELT: Stichwort Islam: Ist der viel gepriesene christlich-islamische Dialog tot?

Huber: Ganz im Gegenteil. Vom Tod könnte man dann reden, wenn man meinte, es läge eine erfolgreiche Phase in diesem Dialog hinter uns, die nun zu Ende sei. Das kann nur der denken, der der Ansicht ist, es sei schon eine gute Form von Dialog, wenn man sich wechselseitig nicht wehtun will. Die Zeit der interreligiösen Schummelei ist zu Ende. Dialog beginnt in dem Augenblick, in dem man dem Streit um die Wahrheit nicht ausweicht. Dabei geht es um die Frage unterschiedlicher Gottesbilder genauso wie um die Frage nach dem Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen. All das müssen wir ansprechen.

DIE WELT: Aber mit wem?

Huber: Das ist das Problem. Wir haben die Schwierigkeit, in Deutschland und in Europa repräsentative Gesprächspartner auszumachen. Manchmal scheint es leichter, sie beispielsweise in Ägypten zu finden als hier in Deutschland.

DIE WELT: Der Buß- und Bettag als staatlicher Feiertag wurde geopfert. Ist demnächst der Pfingstmontag dran?

Huber: Wenn man meint, die Jahresarbeitszeit müsse verlängert werden, dann ist die Preisgabe eines Feiertages die fantasieloseste Antwort. Gerade in einer Zeit der Flexibilisierung ist ein Feiertag, der Ruhe und Orientierung geben kann, ein hohes Gut. Unser Nachdenken über den Pfingstmontag geht in ganz andere Richtung. Wir sind mit der katholischen Kirche im Gespräch darüber, ihn vielleicht zu einem besonderen ökumenischen Feiertag zu machen.

Mit Bischof Wolfgang Huber sprach Gernot Facius

Quelle: Die Welt vom 20. November 2003