"Die Starken in die Pflicht nehmen“

Interview des scheidenden EKD-Ratsvorsitzenden mit der Süddeutschen Zeitung

28. Oktober 2003


Der scheidende EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock spricht vom Verlust an Solidarität in der Gesellschaft und von bürokratischen Strukturen in der Kirche

Ein „ruhiger Gaul an der Deichsel“ sei er, hat der 67-jährige Manfred Kock gesagt. Er hat daraus eine Stärke gemacht: Kock verkörpert die ausgeglichen-lebensfrohe Seite des deutschen Protestantismus. 1997 zum Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche in Deutschland gewählt, tritt er kommende Woche auf der Synode in Trier nicht zur Wiederwahl an. Im SZ-Gespräch zieht er Bilanz.

SZ: Als Sie 1997 gewählt wurden, gab es in der Welt wie in der Kirche zwar eine Menge Probleme, aber doch auch den Optimismus, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können, wenn man sie nur richtig anpackt. Heute scheint dieser Optimismus abhanden gekommen zu sein.

Kock: Ja, ich dachte auch, jetzt, wo die Ost-West-Verwerfungen vorbei sind, wird das Land weiterkommen. Dass es immer noch so viele Arbeitslose gibt wie vor sechs Jahren, ist beklemmend. Der Begriff Solidarität ist in den vergangenen Jahren in merkwürdiger Weise reduziert worden. Ich erkenne noch nicht, dass es ein Gleichgewicht gibt zwischen Wirtschaft und Sozialem. Sicher ist der Umbau der Sozialsysteme nötig, das zwingt zu Einschränkungen für alle. Aber noch ist nicht sichtbar, dass auch die Starken in die Pflicht genommen werden. Ja, da hat sich etwas zum Schlechten verändert. Im Miteinander der Kirchen sehe ich das aber anders. Wir sind ehrlicher zueinander geworden, das ist auch gut so. Deswegen bin ich auch nicht frustriert, wenn eine Erklärung aus dem Vatikan kommt, was alles noch nicht geht im Miteinander der Konfessionen.

SZ: Ist aber nicht doch die Rollenunsicherheit gewachsen in der evangelischen Kirche: Was sagen, wollen, können wir, und wozu sind wir da?

Kock: Wir sind zugleich sicherer und unsicherer geworden. Sicherer, was das Innere unserer Kirche angeht. Die Pfarrer und Gemeinden wissen zunehmend, dass wir missionarisch sein, selbstbewusst die biblische Botschaft vertreten müssen. Wir wissen, was unsere  Gottesdienste wert sind, die Begleitung der Menschen bei Geburt, Hochzeit, Krankheit, Tod. Da sind wir stärker geworden. Die evangelische Kirche ist aber zögerlicher geworden bei politischen Forderungen. Früher haben wir klar gesagt: Krieg darf nicht sein – heute ringen wir darum, wann und unter welchen Bedingungen ein Militäreinsatz möglich sein kann. Es gibt nicht mehr das Nein ohne jedes Ja.

SZ: Was hat dann die evangelische Kirche noch in die Debatten über Frieden oder soziale Gerechtigkeit einzubringen?

Kock: Wir können den Politikern, die mit ihren Reformansätzen nicht weiterkommen, etwas erzählen vom Wagemut eines Abraham, der mit seiner Frau losgezogen ist ohne große Gewissheiten. Wir kennen das Grenzüberschreitende, den Exodus. Und nach dem 11. September ist uns noch stärker klar geworden, dass das Böse nicht einfach eine Konsequenz aus sozialen Verwerfungen ist, die man beseitigen muss, dann ist das Gute da. Natürlich haben Gerechtigkeit und Friede miteinander zu tun. Aber es gibt auch die Realität des Bösen: Der Brudermord des Kain hat keine sozialen Ursachen.

SZ: Sagen Politiker und Wirtschaftsführer tatsächlich: Lieber Präses Kock, sag mir, was Deine Kirche dazu sagt?

Kock: Das erlebe ich immer häufiger. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob das aus einer tatsächlichen Erwartung heraus kommt, oder weil sich da jemand seinen Standpunkt kirchlich absichern möchte. Manchmal rufen die gleichen Leute nach den Werten der Kirche, die persönlich dann ganz anders handeln.

SZ: Weil die evangelische Kirche die Leute nicht mehr wirklich erreicht?

Kock: Wir erreichen viele nicht mehr - aber wir erreichen immer noch sehr viele. Köln-Niehl, wo ich lebe, ist weiß Gott keine erweckte Gegend. Aber was es hier an kirchlichen Aktivitäten gibt, ist beeindruckend: welche Bandbreite es hier gibt, wie viele Menschen ihren Glauben als Richtschnur ihres Lebens sehen. Unser Sohn ist jetzt Studentenpfarrer an den Kölner Fachhochschulen geworden. Ich habe früher an der einseitigen, manchmal fast sektiererischen Art von Politisierung in der Studentenarbeit gelitten, die jede Form von Spiritualität vergessen zu haben schien. Und jetzt ist da ein Aufbruch. Die Studenten wollen Seelsorge, und die Seelsorger trauen sich auch wieder was zu.

SZ: Sie könnten vielleicht mehr erreichen, wenn das Profil der evangelischen Kirche schärfer wäre. Die Katholiken haben es da einfacher: Da gibt es den Papst, gibt es klare Lehrsätze, die kann man gut finden, an denen kann man sich reiben.

Kock: Es gibt Leute, die finden es klasse, wie Papst Johannes Paul II. ethische und moralische Prinzipien durchhält. Selber daran halten würden sie sich aber nie. Dieser Mentalität gegenüber haben wir eine unüberwindliche Schwäche. Unsere Stärke ist es, Menschen zu ermutigen, dem Ruf ihres Gewissens zu folgen. Unsere distanzierten Kirchenmitglieder sagen ja nicht: Uns ist alles egal. Sie haben oft eine Form der Distanz gefunden, die eine Grundnote der evangelischen Kirche ist: Ich muss mir nicht von einem Lehramt meinen Glauben vorschreiben lassen. Zu wissen: Ich bin von Gott gehalten, ich muss keine großen Leistungen bringen, um vor Gott gerecht zu sein, das ist unser Profil bis weit in den Kreis der Distanzierten hinein. Die sind übrigens keine neue Erscheinung. Einer meiner Großväter hegte ein tiefes Misstrauen gegen alle Menschen, die zu oft in die Kirche gingen – das tun nur Katholiken oder Heuchler, hat er immer gesagt.

SZ: Das haben Sie anders gesehen.

Kock: Ich bin als Fünfzehnjähriger vielleicht sogar aus Protest gegen diese Haltung in die Kirche gegangen.

SZ: Ein kryptokatholisches Profil braucht die evangelische Kirche vielleicht nicht – eine neue Struktur aber dringend, die besser ist, als das jetzige In-, Mit- und Gegeneinander der konfessionellen Bünde und des Dachverbandes, der EKD.

Kock: Ein Teil unserer Struktur ist gewollt: Entscheidungen fallen demokratisch, Kirchen- und Gemeindeleitungen werden gewählt, Ämter auf Zeit vergeben. Es wäre auch ein Missverständnis zu glauben, dass weniger Demokratie mehr Charisma bedeuten würde. Wir müssen aber weniger bürokratisch werden, daran arbeiten wir gerade. Mein Vorgänger Klaus Engelhardt hat bei der Amtsübergabe gesagt: Wir müssen die Strukturen der EKD verbessern. Nach dem ersten Amtsjahr war ich aber so enttäuscht, dass ich dachte, das wird nie was. Dass es verschiedene konfessionelle Stränge und Traditionen in der evangelischen Kirche gibt, finde ich ja gut. Aber dass sie faktisch kirchentrennend sein müssen, hat mir nie eingeleuchtet. Das hat je keine theologischen Gründe, das ist vor allem Gewohnheit. Aber jetzt ist doch einiges in Bewegung geraten.

SZ: Weil die Finanzkrise die Fähigkeit zur Einsicht stärkt?

Kock: Geldmangel kann bisweilen auch einen heilsamen Druck ausüben.

SZ: Lassen Sie Ihre Phantasie schweifen: Wie wird die evangelische Kirche in zehn Jahren sein?

Kock : 1964, als Pfarrer in Recklinghausen, habe ich gemeinsam mit einem Kollegen im Gemeindebrief über die Kirche im Jahr 1984 geschrieben: Die Volkskirche ist eingegangen, es gibt nur noch bekennende Minderheiten-Gemeinden, die Luther-Kirche in Recklinghausen-Süd wird gerade zum Museum umgebaut. Nichts ist eingetroffen – keine gute Voraussetzung für weitere Prophezeiungen.

SZ: Spekulieren Sie trotzdem mal.

Kock: Wir werden weniger Geld haben, wir werden weniger Mitglieder haben. Es wird schwerer werden, für konfessionellen Religionsunterricht einzutreten oder den Tendenzschutz für kirchliche Einrichtungen. Wir werden möglicherweise noch schärfer über das Miteinander der Religionen in Deutschland streiten. Die evangelische Kirche wird sich von manchem gut gemeinten Projekt verabschieden müssen – wobei ich heftig gegen diejenigen bin, die einen Rückzug aus allem Diakonischen und die Beschränkung auf Gottesdienst und Gemeinde fordern. Denn wir werden dort gebraucht werden, in zehn Jahren vielleicht noch mehr als heute. Und wir werden, gegen alle pessimistischen Prognosen, eine Volkskirche bleiben: Überall da präsent, wo Menschen sind. Vielleicht wird das nötiger sein als je zuvor.

Interview: Matthias Drobinski

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 28. Oktober 2003